Norderstedt. Organisation „Ärzte für Aufklärung“ hält Maskenpflicht für unsinnig. Zu Unterstützern zählt Kaltenkirchens Ex-Bürgermeister Sünwoldt.
Birgit Reichel aus Norderstedt war entsetzt über den Flyer, den ihr Mann in der vergangenen Woche aus dem Briefkasten gezogen hatte. „Zwang zur Impfung droht“ steht dort in alarmierenden Großbuchstaben auf rotem Hintergrund. Das Bild eines Kindes, das sich beim Impfen die Hand vor das verweinte Gesicht hält, ist zu sehen. Auf der Rückseite werden die vermeintlichen Unterschiede zwischen einer „echten“ und einer „fake“ Pandemie aufgelistet. Es wird suggeriert, dass Politik und Medien alles dafür tun würden, um Angst und Schrecken in der Gesellschaft zu verbreiten.
Diese Flugblätter verteilt derzeit die Organisation „Ärzte für Aufklärung“ in Norderstedt. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Ärzten, die das Coronavirus offensichtlich nicht für besonders gefährlich halten, die Maskenpflicht als unsinnig ansehen und – nicht belegte – Behauptungen in der Welt verbreiten.
„Mich ärgert es, dass es Ärzte gibt, die solche Horrormeldungen verbreiten"
Die Köpfe des Netzwerks sind die Hamburger Ärzte S., W., M.-L. und F. Sie sind gerngesehene Redner auf „Querdenker“-Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. „Mich ärgert es, dass es Ärzte gibt, die solche Horrormeldungen verbreiten. Mit solchen Flugblättern versuchen sie, die Leute aufzuscheuchen“, sagt Birgit Reichel. Die 66-Jährige wohnt in Harksheide, gehört selbst zur Risikogruppe, und findet es nicht angemessen, die Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, herunterzuspielen. „Auch junge Menschen sterben daran“, betont sie.
Das Coronavirus in Deutschland und weltweit:
Die Initiative „Ärzte für Aufklärung“ listet auf ihrer Homepage 2000 Unterstützer mit Namen, Beruf und Wohnort auf, darunter Hunderte Ärzte, aber auch Pädagogen, Ingenieure – und Kaltenkirchens Ex-Bürgermeister Stefan Sünwoldt. Der Sozialdemokrat musste im Jahr 2011 seinen Chefposten im Rathaus zwei Jahre früher als geplant räumen. Die Stadtvertretung initiierte nach beispiellosen Streitereien seine Abwahl. Zwar trat Sünwoldt bei der Neuwahl als sein eigener Nachfolger an, scheiterte aber ebenso wie bei den Bürgermeisterwahlen in der Stadt Duisburg und im baden-württembergischen Göppingen. Sünwoldt blieb mit seiner Familie in Kaltenkirchen. Den Ruf des rausgeworfenen Bürgermeisters wurde er aber nicht mehr los.
Stefan Sünwoldt macht kein Geheimnis daraus, dass er die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung für völlig überzogen hält. Auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte er ein fast 40-minütiges Video, das ihn als Redner auf einer „Querdenker“-Demo Mitte Juni auf dem Marktplatz in der Stadt Kaltenkirchen zeigt.
Organisation stellt großzügig Atteste aus
Die Organisation „Ärzte für Aufklärung“, der sich auch mehrere Mediziner aus Schleswig-Holstein angeschlossen haben, spricht sich unter anderem für ein „großzügiges“ Ausstellen von Attesten gegen die Maskenpflicht aus. Nach Recherchen des Südwestrundfunks (SWR) kommen mehrere Ärzte, die die Initiative unterstützen, dieser Aufforderung nach und befreien Patienten von der Maskenpflicht, ohne sie vorher untersucht zu haben.
Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde
- Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum, und halten Sie mindestens 1,50 Meter Abstand zu anderen Personen
- Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
- Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
- Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
- Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an Ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden
„Wir sehen dieses Verhalten sehr kritisch“, sagt Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein. „Natürlich darf ein Arzt seine freie Meinung äußern und sagen, ob er die Maßnahmen der Regierung sinnvoll findet oder nicht. Aber wenn dies in ein ärztliches Handeln mündet, das für den Patienten gefährlich werden kann, geht das über die freie Meinungsäußerung hinaus.“
Die schleswig-holsteinische Ärztekammer wird aktiv, wenn sie über ein mögliches Fehlverhalten eines Arztes informiert wird. Sie handelt nicht auf eigene Faust. Wenn eine Beschwerde vorliegt, folgt ein Verfahren, das bis zu einem Jahr dauern kann und in der Regel mit einer Geldstrafe beendet wird. Die Approbation könnte nur von der zuständigen Landesbehörde entzogen werden. „Aber das passiert äußerst selten“, sagt Ärztekammer-Präsident Henrik Herrmann.