Aumühle/Kiel. Andrea Tschacher, in der DDR geboren, sitzt heute als CDU-Politikerin im Kieler Landtag. Sie fordert, den Menschen im Osten zuzuhören.
Es sind manchmal Sätze, die Geschichte schreiben. Dazu zählt der Halbsatz des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 in der Prager Botschaft, dessen Worte im Jubel der geflüchteten DDR-Bürger untergingen. Aber auch die gestammelten Worte eines Günter Schabowski am 9. November: Auf die Frage eines Journalisten, ab wann die neuen Reiseregeln gelten, antwortet dieser: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“
Die Reisefreiheit für DDR-Bürger sollte eigentlich den Druck aus dem Kessel nehmen. Stattdessen sorgte sie für eine Explosion. Hunderttausende DDR-Bürger hatten seit Monaten für demokratische Reformen demonstriert, Tausende waren in den Westen geflohen. Als in der Nacht zum 10. November die Grenzübergänge geöffnet wurden, war es auch das Ende der DDR.
Die gebürtige Dresdnerin Andrea Tschacher erlebte den Mauerfall als Teenager in Ost-Berlin. Heute ist die CDU-Politikerin Mitglied des Kieler Landtags und unter anderem Vorsitzende des Fraktionsarbeitskreises Zusammenarbeit SH/HH. Im Interview mit Redakteur Marcus Jürgensen erinnert sich die 51-Jährige an den Tag der Grenzöffnung und erklärt, warum viele Menschen in Ostdeutschland inzwischen extremen Parteien ihre Stimme geben.
Als vor 35 Jahren die Mauer fiel, waren Sie 16 Jahre alt. Wo haben Sie den 9. November erlebt und was sind Ihre Erinnerungen daran?
Am Abend des 9. November 1989, kurz vor 19 Uhr, hörten viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger, wie Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz fast beiläufig eine neue Reiseregelung ankündigte – die Nachricht, die den Lauf der Geschichte verändern sollte. Doch wir saßen an diesem Abend nicht vor dem Fernseher, ahnten nichts von der sensationellen Nachricht. Mein Vater war auf einem Lehrgang, und so konzentrieren sich meine ersten Erinnerungen an diesen historischen Tag mehr auf den Morgen danach, auf den 10. November 1989.
An diesem Morgen machte ich mich mit einer Freundin auf den Weg zur Berufsschule an der Warschauer Straße in Berlin, wo ich eine Ausbildung absolvierte. Bereits früh an diesem Tag hatte ich das Gefühl, dass etwas anders war. Menschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite liefen hektisch und aufgeregt, was uns stutzig machte. Als wir schließlich in der Schule ankamen, war niemand da, außer dem Hausmeister, der uns erklärte, dass alle „drüben“, in West-Berlin, seien. Ungläubig und neugierig machten wir uns auf zum Grenzübergang Oberbaumbrücke – ein Ort, der mir bis dahin völlig fremd war.
Dort, an der Grenze, sahen wir eine Menschenmenge, voller Erwartung und Emotionen. Meine Freundin wollte gleich hinübergehen, doch ich zögerte. Was, wenn die Grenze wieder geschlossen wird und ich meine Eltern und meinen Bruder nie mehr wiedersehe? Doch als ich sah, wie Menschen ungehindert hinübergingen, reihten wir uns ein und gingen Schritt für Schritt nach West-Berlin – das war sehr aufregend und bewegend zugleich.
Als ich am Nachmittag nach Hause zurückkehrte, warteten meine Eltern mit einer freudigen Ungeduld auf mich. Ich wollte ihnen von meinem Erlebnis erzählen, doch sie unterbrachen mich sofort und sagten: „Das kannst du uns gleich erzählen, aber wir wollen los! Die Mauer ist auf! Wir haben auf dich gewartet!“ Überwältigt und aufgeregt rief ich: „Ich war schon drüben!“ Wir fuhren dann gemeinsam mit meinem Bruder zur Bornholmer Straße, um das Unfassbare selbst zu erleben. In diesem Moment spürte ich: Jetzt beginnt etwas, das unser aller Leben für immer verändern wird.
Die Szenen an der Bornholmer Brücke bleiben unvergessen. Links und rechts standen Menschen und empfingen die Ostdeutschen mit offenen Armen, mit Applaus, Gesang und Freudenschreien. Sie warfen uns Bananen und Schokolade zu. Auf der Brücke fuhren die Trabis im Schritttempo, begleitet von einer Welle der Begeisterung und Freude und die Menschen klopften mit ihren Handflächen auf die Dächer der Trabis. Menschen, die sich zuvor nie begegnet waren, fielen sich in die Arme, und auch Freudentränen flossen. Das waren so emotionale und besondere Momente – die vergisst man einfach nicht.
Wann sind Sie erstmals in die westdeutschen Bundesländer gereist und welche Eindrücke sind Ihnen im Gedächtnis geblieben?
Bevor wir selbst nach Westdeutschland reisten, kam zuerst ein Teil unsere Verwandtschaft aus Bayern und Nordrhein-Westfalen zu uns. Diese Verwandtschaft hatte uns jedes Jahr zu Weihnachten immer die sogenannten „Westpakete“ geschickt, die immer ein Highlight unter dem Weihnachtsbaum waren und die wir immer zum Schluss auspackten. Jedes Jahr freuten wir uns riesig darauf, weil sie Dinge enthielten, die es bei uns nicht gab.
Unsere eigene erste Reise in die westdeutschen Bundesländer unternahmen wir dann 1990. Gemeinsam mit meinen Eltern und meinem jüngeren Bruder fuhren wir nach Bayern, wo der Bruder meines Vaters mit seiner Familie lebte. Danach besuchten wir weitere Verwandte, die ebenfalls in Bayern und Nordrhein-Westfalen lebten. Der Moment, in dem wir uns endlich selbst auf den Weg machen konnten, bedeutete absolute Freiheit. Etwas, das wir lange entbehren mussten – eine Freiheit, von der wir zuvor nur träumen durften. Unsere Reisemöglichkeiten waren vorher doch sehr begrenzt.
Vor Ort während unserer Reisen nach Westdeutschland war es ein seltsames Gefühl. Einerseits kam uns vieles gar nicht so fremd vor. Andererseits standen wir in den Supermärkten vor langen Regalen und waren überwältigt von der Fülle an Produkten und der bunten Warenwelt. Diese Auswahl kannten wir nicht und erlebten zum ersten Mal, was uns über all die Jahre verwehrt geblieben war. Auch das Angebot in den Bekleidungsgeschäften war beeindruckend und völlig anders als das, was wir gewohnt waren.
In den Jahren zuvor hatten meine Eltern einige Male versucht, „Besuchsanträge“ zu stellen, wenn besondere Anlässe innerhalb der Verwandtschaft ersten Grades anstanden. Doch diese wurden konsequent abgelehnt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie enttäuscht mein Vater war, als sein Antrag, die Cousine zu ihrem 60. Geburtstag in der Nähe von Bielefeld zu besuchen, abgelehnt wurde. Die ganze Familie hätte ohnehin nicht mitreisen dürfen, aber ihm wurde verwehrt, seine eigene Cousine zu sehen. Diese Einschränkungen machen mich bis heute fassungslos.
Wie sehen Sie sich heute: Sind sie Ost- oder Westdeutsche und wo ist für Sie Heimat?
Ich bin stolz darauf, in Dresden geboren zu sein. Diese wunderschöne Stadt, oft als Elbflorenz bezeichnet, hat einen festen Platz in meinem Herzen. Aufgewachsen in Bernau bei Berlin, in der Nähe der Mauer, prägten diese Erfahrungen meine Identität.
Seit 33 Jahren lebe ich im Kreis Herzogtum Lauenburg in der Sachsenwaldgemeinde Aumühle, wo ich mich sehr wohlfühle. Zu Beginn war es jedoch eine Herausforderung, im Norden, hier in Schleswig-Holstein, wirklich Fuß zu fassen. Mit 18 Jahren kannte ich hier niemanden und musste neue Freundschaften knüpfen und eine Existenz aufbauen. Trotz meiner Wahlheimat sind Dresden und Bernau, meine Heimatstädte, für immer in meinem Herzen. Sie gehören zu mir, ebenso wie die Bundesländer Sachsen und Brandenburg, denen ich mich ebenfalls sehr verbunden fühle.
Ich finde es großartig, in Schleswig-Holstein leben zu können – das war und ist meine bewusste Entscheidung. Ich bin dankbar für die Freiheit, die ich vor 33 Jahren hatte, um diesen Weg zu wählen. Mein Umzug nach Aumühle war eher ein glücklicher Zufall, entstanden im Rahmen des „Aufbau Ost“. Ich erhielt ein Angebot für eine neue berufliche Laufbahn in Aumühle, einer Gemeinde, die mir damals völlig unbekannt war. Ich entschied mich, diesen neuen Weg einzuschlagen. Ursprünglich war geplant, nach etwa drei Jahren nach Brandenburg zurückzukehren. So kam es, dass ich ohne viel Zeit zum Nachdenken oder zur Vorbereitung nach Schleswig-Holstein zog.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung kritisiert, dass zu wenige Menschen aus Ostdeutschland in Spitzenpositionen vertreten sind: Spielte Ihre Herkunft bei Ihrer Karriere eine Rolle?
Als jemand, der aus Ostdeutschland kommt, habe ich in den 90ern durchaus die Erfahrung gemacht, dass meine Herkunft thematisiert wurde. Heute erlebe ich jedoch keine Nachteile mehr in Verbindung mit meiner Herkunft. Ich fände es wichtig, dass mehr Ostdeutsche in Führungspositionen vertreten sind – übrigens auch in den Vorständen der demokratischen Parteien. Hier besteht noch ein deutlicher Nachholbedarf, denn die Perspektiven und Erfahrungen von Menschen aus Ostdeutschland sind nach wie vor zu wenig vertreten und sollten stärker einfließen.
In der Studie „Policy Paper: Autoritäre Dynamiken und Unzufriedenheit mit der Demokratie“ geben zwei Drittel der Befragten in den neuen Bundesländern an, froh zu sein, die DDR noch selbst erlebt zu haben. Warum sind die Menschen in Ostdeutschland, die unter hohem persönlichen Risiko Wende und Mauerfall erzwungen haben, so wenig stolz darauf?
Es ist ein großes Glück, dass wir seit 34 Jahren in einem vereinten Land in Frieden, Freiheit und Demokratie leben – ein Zustand, der nicht selbstverständlich ist. Wir sollten mit Stolz und Dankbarkeit auf die friedliche Revolution und den Mut der Menschen in Ostdeutschland blicken. Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung sind bedeutende Errungenschaften, die zeigen, was wir gemeinsam erreichen können.
Trotz allem gibt es die Herausforderung, sich in der vereinten Gesellschaft anerkannt zu fühlen. Viele Ostdeutsche erleben weiterhin Benachteiligungen – sei es in Bezug auf Einkommen, Rente oder soziale Anerkennung. Das führt dazu, dass der Stolz auf die eigene Geschichte oft von Frustration begleitet wird. Daher ist es wichtig, die Lebenswege und Erfahrungen aus Ost und West bewusster wahrzunehmen, um ein Verständnis zu schaffen, das uns weiter zusammenwachsen lässt.
Wenn Sie auf die Wahlergebnisse in den neuen Ländern schauen: Können Sie einem Westdeutschen erklären, wie ein Ostdeutscher denkt und warum er so wählt?
Wenn wir die Wahlergebnisse in den neuen Bundesländern betrachten, wird schnell klar, dass viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Die Erfahrungen der Menschen in Ostdeutschland sind stark durch die Geschichte der DDR und die Herausforderungen der Wiedervereinigung geprägt. Einige Menschen, egal ob älter oder jünger, haben das Gefühl, dass ihre Anliegen und Perspektiven oft ignoriert werden. Das kann dazu führen, dass sie sich als Bürgerin und Bürger „zweiter Klasse“ sehen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass nicht alle Ostdeutschen diese Sichtweise teilen oder deshalb extreme Parteien wählen. Es gibt eine Vielfalt an Meinungen und Erfahrungen, und wir müssen den Dialog suchen, um diese Perspektiven besser zu verstehen.
Die Wiedervereinigung brachte für Ostdeutschland massive Veränderungen mit sich, die in Westdeutschland oft weniger spürbar waren. Diese Unterschiede müssen in der politischen Diskussion stärker gewürdigt werden. Die Menschen im Osten erwarten dabei nicht nur Anerkennung, sondern auch handfeste Lösungen für die Herausforderungen, vor denen sie stehen. Sie möchten sehen, dass Politik für sie gemacht wird, statt nur Worte ohne Taten. Aber wichtig zu sagen ist auch: Der Staat kann und soll in einer Demokratie nicht alles für die Menschen regeln.
Um die Menschen, die extreme Parteien wählen, wieder für die Demokratie zu gewinnen, ist es ganz wichtig, ihnen zuzuhören und ihre Anliegen, Sorgen und Ängste ernst zu nehmen. Es ist wichtig, dass ihre Stimmen in die politischen Debatten einfließen und dass wir ihre Bedürfnisse aktiv aufgreifen und berücksichtigen. Wir sollten auch die Prägungen der ostdeutschen Bevölkerung mehr anerkennen und ihre Erfahrungen einfließen lassen.