Geesthacht. Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Herzogtum Lauenburg/Stormarn setzt auf einen anderen Kurs im Ukraine-Krieg. Das große Interview.

Zusammen mit Karl Lauterbach wollte sie 2019 SPD-Vorsitzende werden. Sie ist Sprecherin ihrer Partei für Klimaschutz und Energie und setzt sich für die umfassende Einführung erneuerbarer Energien ein. Bei der kommenden Bundestagswahl hat sie gute Chancen als Spitzenkandidatin der SPD in Schleswig-Holstein aufgestellt zu werden. Die Rede ist von Nina Scheer, der direkt gewählten Bundestagsabgeordneten des Wahlkreises Herzogtum Lauenburg-Stormarn Süd. Im Interview mit unserer Redaktion hat die 52-jährige Stellung bezogen: zur Lage im Land, dem Verhältnis zu Russland, ihren eigenen Ambitionen und natürlich zu ihrem Lieblingsthema Energiewende, für das sie eine neue Herangehensweise fordert.

Frau Scheer, am Sonntag sind Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Die Vorhersagen für die SPD und alle Ampel-Parteien sind verheerend. Welche Prognose geben Sie für die Wahlen ab? Haben Sie Angst vor dem Ausgang?

Nina Scheer: Es hat sich eine Art „politische Kultur“ herausgebildet, Kommunikation mit Zustandsbeschreibung und mit Prognosen zu bestreiten. Das wirkt sehr wissend, kompetent und seriös. Das Problem dabei: Solche Erzählungen lassen die eigene politische Zielvorgabe missen und haben unweigerlich einen werbenden Effekt für das Gesagte. Ich konzentriere mich lieber auf eine Zukunftsbeschreibung, die ich aus Überzeugung umgesetzt sehen möchte und für die es deswegen auch mit jeder Silbe politisch zu werben gilt. In Bezug auf die Wahlen am Wochenende gilt: Wir brauchen auf Chancen ausgerichtete Bildung statt Bildung mit biologischen Unterschieden. Wir brauchen bezahlbare Energie und deswegen den beschleunigten Umstieg auf erneuerbare Energien und nicht das Märchen von „sicherer“ Atomenergie. Wir brauchen eine Migrationspolitik, die Einbrüche sowohl in der Wirtschaft als auch dem Gesundheits- und Pflegesystem vermeidet, statt nationalistische Abschottung zu erzeugen. Dafür werbe ich und dafür muss hart gearbeitet werden, da dies alles keine Selbstläufer sind. 

Warum ist die Stimmung im Land so, dass die AfD, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, derart großen Zulauf hat?

Das hat sicher auch mit den Lebensbiografien, Benachteiligungen in den Erwerbsleben, enttäuschten Erwartungen und dem Verständnis von Demokratie zu tun. Die politische Mitwirkung erfährt von verschiedenen Seiten Hürden – über die Blasenbildung im Social-Media-Bereich, die Schnelllebigkeit von Entwicklungen, die es Parteien erschwert, ihrer Rolle gerecht zu werden, bis hin zum fehlenden Verständnis, dass eine Demokratie nur über aktive Beteiligung funktioniert. Zugleich müssen die Ängste der Menschen ernster genommen werden. Etwa die Angst vor den Auswirkungen der aktuellen Kriege. 

Nina Scheer bei einer Rede im Deutschen Bundestag.
Nina Scheer bei einer Rede im Deutschen Bundestag. © Scheer | Scheer

Stattdessen werden Rufe nach einer Ein-Parteien-Herrschaft lauter, weil diese endlich mal etwas durchsetzen könne.

Das ist Ausdruck von empfundener Hilflosigkeit und mangelndem Vorstellungsvermögen über daraus folgende Konsequenzen.

Aber wie konnte es so weit kommen?

Uns darf nicht der Diskurs verloren gehen. Eine Erklärung ist sicher auch das Sterben der Zeitungen, das seinen Anteil daran hat und die Entwicklung des Privatfernsehens. Wenn für die Themenwahl verstärkt auf „Klickzahlen“ im Internet geschaut wird, werden menschliche Reflexe bedient, aber kein tiefergehendes Informationsbedürfnis gedeckt. Auch in den Blasen im Social-Media-Bereich gibt es kaum Raum für differenzierte Betrachtung. Konstruktive Meinungsbildung funktioniert über Abwägung, gegenseitige Disziplinierung und Rücksichtnahme. In den Blasen wird Empörung belohnt. Das hängt auch mit menschlichen Instinkten und Schwächen zusammen. Menschen haben gerne Bestätigung. Die Abwägung, der Kompromiss ist anstrengend. 

Was müsste getan werden?

In Bezug auf das Kapitel Medien wäre ein digitales Vermummungsverbot richtig. Manipulationen, wie sie etwa mit Bots und Fake Accounts stattfinden, müssen bekämpft werden. Da muss der Rechtsstaat konsequent handeln, ansonsten ist es eine ernst zu nehmende Gefährdung der Demokratie. Der Monopolcharakter von Plattformen in der Hand von Milliardären, die über intransparente Algorithmen über Reichweiten von Meinungen entscheiden, passt mit einem Informationsbedürfnis einer Demokratie nicht zusammen. Der Anspruch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss sein, alle Menschen im Land zu erreichen.

Wie soll das gehen, wenn auch das Vertrauen in den öffentlichen Rundfunk verloren geht?

Es müssen Formen, und sei es eine öffentlich-rechtliche Social-Media-Plattform, entwickelt werden, die dem heutigen technischen Nutzungsbedarfen entspricht, zugleich aber auch den medienrechtlichen und verfassungsbezogenen Regeln.

Auch die Ampel-Regierung streitet gefühlt in einer Tour?

Das ist eine ambivalente Angelegenheit. Streit ist nicht gleich Streit. Zur Demokratie gehört, öffentlich um den besten Weg zu ringen und Argumente auszutauschen. Wenn ein solcher Diskurs mit einer Art Streit gleichgesetzt wird, der nur auf die Beschädigung des Gegners ausgerichtet ist, dann werden Aushandlungsprozesse nur noch hinter verschlossenen Türen stattfinden. Das ist für eine Demokratie aber nicht gerade gesund. Der fehlende öffentliche Diskurs wird dann zu Recht angeprangert. Insofern werbe ich dafür, den öffentlichen Meinungsstreit wertzuschätzen, hingegen unsachliche Beschädigungsversuche zu verurteilen. Nur mal als Beispiele: Wenn Wolfgang Kubicki – er ist immerhin Vizepräsident des Deutschen Bundestages – es öffentlich als lästig darstellt, mit der SPD-Vorsitzenden verhandeln zu müssen oder wenn Omid Nouripour (Co-Vorsitzender der Grünen, die Red.) die Ampel zur Übergangsregierung erklärt, ist das demokratisch betrachtet ein destruktiver Akt. Wir sollten uns alle auf die Sachfragen konzentrieren. Deswegen bitte ich die genannten Beispiele auch nicht als politische Statements hochzuziehen.

Nina Scheer ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Nina Scheer ist seit 2013 Mitglied des Deutschen Bundestages. © Scheer | Scheer

Das Handeln der Ampel führt nun aber wahrscheinlich dazu, dass die Ampel-Parteien bei den ostdeutschen Landtagswahlen abgestraft werden. Was muss die SPD anders machen?

Auf die in der Frage enthalte Prognose, werde ich aus den genannten Gründen nicht eingehen. Ein – allerdings parteiübergreifend – anzusprechendes Thema ist sicher der Umgang mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Hier muss unter allen Umständen eine Eskalationsspirale vermieden werden und es muss nach meiner Überzeugung mehr für einen diplomatischen Weg getan werden. Den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet, zumal, mit dem Ziel der Einnahme von Regionen, halte ich für falsch. Wenn nun zeitgleich zum Vorrücken der Ukraine in der Region Kursk Drohnen über Brunsbüttel gesichtet wurden oder Sabotageakte an Militärstützpunkten in Deutschland vermutet werden, ist das meines Erachtens mehr als ernst zu nehmen. Auch die Ukraine erklärt, dass es letztlich diplomatisch gelöst werden muss. Wenn dies nicht forciert angegangen wird, laufen die Ukraine und mit ihr auch die Unterstützerstaaten Gefahr, aus einer noch geschwächteren Position heraus verhandeln zu müssen, wenn es dann überhaupt noch um Verhandlungen gehen kann. Mir ist bekannt, dass Russland heute von Bedingungen spricht, die für die Ukraine nicht akzeptabel sind. Das sollte aber kein Hinderungsgrund für Verhandlungen sein. Es sollte nichts unversucht gelassen werden. 

Am 28. September 2025 ist wieder Bundestagswahl. Sie bewerben sich erneut als Direktkandidatin in ihrem Wahlkreis. Sollten Sie nicht direkt gewählt werden, ist die Aussicht über die SPD-Landesliste nach Berlin zurückzukehren vielversprechend. Dann vielleicht als Ministerin?

Darüber möchte ich nicht spekulieren. Ich möchte gern der dienenden Funktion, die in einem Mandat steckt, nach besten Kräften gerecht werden. Das war immer und ist mein Antrieb.

Ihr Spezialgebiet Energiewende ist auch so ein Thema, das polarisiert.

Es muss besser gelingen, die Chancen der Energiewende in den Mittelpunkt zu rücken. Die massive Beschleunigung im Ausbau erneuerbarer Energien ist für die Menschen die Chance auf dauerhaft bezahlbare und weltweit verfügbare Energie. Damit können auch Flucht und Armut vermieden werden. Die Energiekrise 2021/2022 hat uns drastisch vor Augen geführt, wie verwundbar wir in Abhängigkeit fossiler Energien sind. Maßnahmen, die die Menschen als Gängelei empfinden oder die sie ökonomisch überfordern, erschweren oder blockieren den Prozess.

Welche Vorschläge haben Sie?

Wir brauchen verstärkte Maßnahmen zum Umstieg auf erneuerbare Energien. Windkraftanlagen dürfen nicht stillstehen, überschüssiger Strom muss für Wärme und Wasserstoff genutzt werden. Dafür haben wir auch schon gesetzliche Grundlagen geschaffen, an deren wirksamer Umsetzung noch gearbeitet wird. Wir müssen massiv in Infrastruktur und Wasserstofftechnologie auf Basis erneuerbarer Energien investieren. Dafür werden wir ein Sondervermögen Klimaschutz und Transformation brauchen und müssen auch an die Schuldenbremse ran. Das brauchen wir zur Wärmewende, und auch für die Transformation der Stromnetze, um die Netzentgelte reduzieren zu können. Denn die machen den Strom zu teuer.

Das wird mit der FDP aber schwierig werden, die sich vehement gegen eine Neuverschuldung stemmt.

Aktuell ist das so. Deswegen muss das weiter öffentlich diskutiert werden.

Lassen Sie uns noch auf ihren Wahlkreis blicken. Sind Sie mit ihren Errungenschaften bislang zufrieden?

Die Vervielfachung beim Ausbau erneuerbarer Energien und deren gesetzlichen Vorrang für erneuerbare Energien würde ich als Erfolg werten – er greift bundesweit. Dabei gibt es viele kleine Schrauben. So habe ich etwa erwirkt, dass die Nachtabsenkung von Windkraftanlagen minimiert wird. Das hat den Ertrag um mehrere Prozentpunkte gesteigert. Auch der Abbau von Genehmigungshemmnissen ließe sich nennen. Ansonsten konnten einige Förderungen „an Land gezogen werden“: etwa zur Sanierung des Ratzeburger Domturms, der Nathan-Söderblom-Kirche in Reinbek, dem Gutshaus Kulpin oder etwa für Sprach-Kitas.

Die Suche nach einem Endlager für Atommüll verschiebt sich um Jahrzehnte. Hiervon ist Geesthacht mit dem Zwischenlager am Kernkraftwerk Krümmel direkt betroffen.

Ja, das wirft nochmal verstärkt die Frage nach der Zukunft des Zwischenlagers auf. Auch nach dem bisherigen Zeitplan hätte es hier einer Genehmigungsverlängerung für die Castorbehälter bedurft, die bislang auf 40 Jahre ausgelegt ist. Wenn sich nun alles um Jahrzehnte verschiebt, ist die Frage, ob einfache Verlängerungen mit Blick auf die Materialbeschaffenheit möglich sind, oder ob es dann in Deutschland ein zentrales Zwischenlager geben muss. Klar ist, die Standort-Kommunen, und damit auch Geesthacht, dürfen damit nicht allein gelassen werden. Hier müssen zumindest Entschädigungen folgen.

In Geesthacht gibt es Überlegungen, am Standort Krümmel nach dem Rückbau in die Wasserstoffnutzung einzusteigen. Geht das in der Nähe von atomarem Müll?

Das Ob einer Standortnutzung muss vor Ort entschieden werden. Das Wie wäre eine Frage der entsprechenden Sicherung. Wasserstoffverfügbarkeit wird im Zuge der Energiewende auf jeden Fall Nutzen bringen. Generell brauchen wir mehr Anreize für sogenannte Flexibilitäten und das Einbinden von Speichern, etwa dem Pumpspeicherwerk Geesthacht.

Ist ein Wasserkraftwerk am Elbwehr in Geesthacht vom Tisch?

Nein, es hängt aber von der einzusetzen Technik ab. Alles, was im Zuge der Wehrsanierung bautechnisch vollzogen werden müsste, um ökonomisch darstellbar zu sein, wäre jenseits der Sanierung wohl kaum darstellbar. Aber es gibt verschiedene Techniken und Abwägungen zu treffen. Den Prozess auch für Geesthacht anzugehen, würde ich jedenfalls begrüßen. 

Durch die Einsparungen im Bundeshaushalt bekommt die Autobahn GmbH des Bundes weniger Geld. Steht jetzt auch die Umgehungsstraße in Geesthacht auf der Kippe?

Dass sie in ihrer Priorität als vorrangiger Bedarf jetzt benachteiligt wird, würde ich nicht so sehen. Anders als etwa in Ratzeburg, wo sich auch die örtliche SPD gegen die Umgehung ausgesprochen hat, hat die Umgehungsstraße in Geesthacht nach wie vor eine erkennbar entlastende Funktion.

Bei Lauenburg wird über eine neue Elbquerung für den Straßenverkehr diskutiert.

Hier sollten im weiteren Prozess jedenfalls die städteplanerischen Betroffenheiten berücksichtigt werden. Naheliegend wäre es, Bahn und Straße weiter in der bestehenden Querung zu bündeln, um vermeidbaren Flächenfraß zu unterlassen. Dass sich die Bahn bis heute – so wurde es beim letzten Termin in Lauenburg offenbar – zur Planung noch nicht geäußert hat, ist für alle Beteiligten eine Zumutung.

Apropos Bahn. Geesthacht wünscht sich endlich wieder einen Bahnanschluss.

Es ist unverzichtbar, dass die zehntgrößte Stadt in Schleswig-Holstein einen Bahnanschluss bekommt. Das muss ganz oben stehen und hier muss Tempo eingelegt werden. Das betrifft auch eine Durchbindung zum Hamburger Hauptbahnhof. Ein Anschluss bis Bergedorf wäre ein anderes Projekt und damit auch eine faktische Absage an den geforderten Bahnanschluss.