Lauenburg. Als das Auto in das Nagelstudio krachte, war die Betreiberin im Geschäft. Wie sie sich heute fühlt und wie es weitergeht.
Vor ihrem Nagelstudio an der Berliner Straße zu stehen, kostet Irina Senger einige Überwindung. Zu frisch sind die Erinnerungen an den Tag vor zwei Wochen, an dem innerhalb von Sekunden ihre Existenz buchstäblich in Trümmern lag. Wie es weitergeht, weiß die 44-Jährige heute nicht.
Rückblick: Es ist Mittwoch, der 25. Mai, gegen 17 Uhr. Irina Senger ist gerade mit der Behandlung ihrer letzten Kundin fertig. Sie freut sich auf den Feierabend, auch wenn zu Hause auf die alleinerziehende Mutter von drei Kindern noch allerlei Arbeit wartet. Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Ziegelsteine und Glasscherben fliegen quer durch den Raum. „Ich dachte sofort an eine Explosion. Wir haben uns instinktiv in eine Ecke geworfen und hatten Todesangst“, erzählt sie. Später erfahren die Frauen: Es war ein Geländewagen, der in Schaufenster und Eingangsbereich des Nagelstudios gekracht war. Wie berichtet hatte ein 89-Jähriger die Kontrolle über seinen Kleinwagen verloren, dann den Geländewagen gerammt und diesen mit voller Wucht über den Gehweg in das Ladengeschäft geschoben.
Auto kracht ins Ladengeschäft – Nervenzusammenbruch am Tag danach
Wenn Irina Senger an die ersten Minuten nach dem Unfall denkt, dann auch daran, dass einige Passanten sofort wussten, was zu tun war. „Man hört ja oft, dass Rettungsarbeiten von Gaffern behindert werden. Das war hier das Gegenteil“, sagt sie. Nachdem sich Ersthelfer um die Verletzten in den Autos gekümmert hatten, sahen sie nach den beiden Frauen, die während des Unfalls im Gebäude waren.
„Zwei Jugendliche vergewisserten sich, dass wir unverletzt waren und fragten dann nach einem Besen, um die Scherben vor dem Gebäude zusammenzukehren“, erzählt Irina Senger. Andere Passanten hätten die Unfallstelle abgesperrt, bis wenige Minuten später auch Polizei, Rettungskräfte und Feuerwehr vor Ort waren. „Ich habe mich erstmal sicher gefühlt. Als die Helfer des THW das Gebäude von innen abgestützt hatten, durfte ich in Begleitung eines Feuerwehrmannes die Kasse mit den Tageseinnahmen aus dem Geschäft holen und ein paar Geräte, die ich gerade greifen konnte“, sagt sie. Wie in Trance hätte sie sich gefühlt. „Ich habe mir gesagt, okay, du lebst noch, also ist alles gut“, erinnert sie sich. Der Zusammenbruch kam am nächsten Morgen. „Da habe ich realisiert, dass alles, was ich mit aufgebaut hatte, plötzlich in Trümmern liegt. Dabei ging es doch nach der Corona-Krise gerade wieder etwas bergauf“, sagt die Nageldesignerin.
In der Corona-Krise ihren Traum nicht aus den Augen verloren
Auch nach dem Lockdown waren viele ihrer vorwiegend älteren Kunden aus Angst vor Ansteckung nämlich erstmal weggeblieben. „Der Mai war der erste Monat seit über zwei Jahren, in dem ich wieder ein volles Terminbuch hatte. Die Stammkunden hatten mir die Treue gehalten.“ Sie dachte, es geschafft zu haben. „Während der Corona-Krise wollte ich um jeden Preis durchhalten“, sagt sie. Natürlich hätte sie zum Amt gehen können, um für sich und ihre Kinder staatliche Hilfe zu beantragten. Doch das kam nicht infrage. „Ich lebe meinen Kindern vor, dass man für sein Geld arbeiten muss“, sagt sie. Ihre Tochter ist 22 Jahre alt und studiert Psychologie. Ein Sohn ist 16 Jahre alt und macht eine Ausbildung, der andere besucht die achte Klasse.
Eine Kämpferin war Irina Senger schon immer. Vor 25 Jahren war sie mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Die damals 19-Jährige sprach kaum Deutsch, aber sie biss sich durch, lernte Bauzeichnerin. Doch sie hatte einen Traum: Selbstständig sein mit einem eigenen Nagelstudio.
Gutachter muss die Statik des Gebäudeanbaus beurteilen
Daran änderte sich nichts, als sie mit den Kindern schließlich alleine lebte. Wenn die abends schliefen, büffelte sie für die Umschulung und bereitete sich auf Prüfungen vor.
In ihrem Studio hängen die Urkunden und Ausbildungszertifikate noch an der Wand. Man kann sie sehen, wenn man durch das heilgebliebene verschmierte Schaufenster schaut. Ansonsten ist von der Einrichtung nicht viel übrig geblieben. Trümmer und große Glasscherben liegen liegen herum. Auf allen Möbeln liegt eine dicke Schicht aus Zementstaub.
Das andere Schaufenster ist mit einer Sperrholzplatte gesichert. Ein Pfeiler im Eingangsbereich hat sich sichtbar verschoben. Auch wenn der Gebäudeanbau innen mittlerweile durch starke Stützpfeiler gesichert ist, darf Irina Senger ihr Geschäft derzeit nicht betreten. Das letzte Wort hat jetzt ein Statiker, der in den nächsten Tagen den Zustand des Gebäudevorsprungs beurteilen muss. Erst dann wird klar sein, ob der Anbau des Gebäudes zu retten ist. „Ich wünsche mir so sehr, dass mein Geschäft wieder aufgebaut werden kann“, sagt Irina Senger.
44-Jährige ist von Hilfsbereitschaft überwältigt
Derzeit ist Irina Senger krankgeschrieben. Zu tief sitzt der Schock über das Geschehene. Als Selbstständige hat sie aufgrund ihrer Arbeitsunfähigkeit im Moment kein Einkommen. Sie lebt mit ihren Kindern von ihren kleinen Rücklagen und der Hilfe ihrer Eltern.
Welche Entschädigung sie erhalten wird, hängt von der weiteren Klärung der Umstände ab. Eines ist Irina Senger aber schon jetzt klar: Aufgeben ist keine Option. „Ich erhalte viel Zuspruch von meiner Familie, den Kunden, meinen Vermietern, aber auch von wildfremden Menschen.“ Und es hätte ja alles noch viel schlimmer kommen können, weiß sie: „Wir hatten einen Schutzengel. Wäre ich eine Minute schneller mit der Behandlung fertig gewesen, hätten wir an der Kasse gestanden.“ Dort, wohin das Glas und die Trümmer geflogen sind.