Schwarzenbek. Erst seit drei Wochen gibt es eine neue Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schwarzenbek. Das Telefon steht nicht still.

„Es ist eine Kata­strophe“, sagt Nathalie Bourgeon, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Gemeint sind die oft dramatischen Auswirkungen der seit zwei Jahren andauernden Pandemie auf die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Erst vor drei Wochen hat sie zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Daniela Manner in der Pröschstraße 6 in Schwarzenbek eine Praxis (www.kjp-schwarzenbek.de) eröffnet. Die Corona-Folgen sind deutlich: „Das Telefon steht praktisch nicht still, die Not der Hilfesuchenden ist groß“, sagt die Fachärztin.

Corona: Zunahme von psychischen Krankheiten bei Kinder und Jugendlichen

350 Anmeldungen verzeichnete die Praxis in der kurzen Zeit ihres Bestehens. „Wir sehen eine deut­liche Zunahme von psychischen Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen, die bisher keine Beschwerden hatten“, sagt die Medizinerin. Bei jungen Menschen, die schon vor der Pandemie erkrankten, würde sich die Erkrankung oft verschlimmern.

Die Gründe sind vielschichtig, aber eine Gemeinsamkeit gibt es: In der Pandemie sind unverzichtbare Rahmenbedingungen weggefallen: Treffen mit Freunden waren nur mit Einschränkungen möglich, die Zusammenkünfte in Vereinen und andere Freizeitaktivitäten fielen weg, Schulen waren geschlossen, viele Eltern verloren ihren Arbeitsplatz, das Geld in der Familie wurde oft knapp, Routinen und Strukturen brachen weg, um nur einiges zu nennen.

Kinder haben das Vertrauen verloren, dass alles wieder gut wird

Das ehemalige Schwarzenbeker Rathaus an der Pröschstraße 6 ist seit Jahresbeginn eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der zwei Ärztinnen und sechs weitere Mitarbeiter tätig sind. Ein barrierefreier Zugang mit einer Rampe wurde auf der Rückseite installiert.
Das ehemalige Schwarzenbeker Rathaus an der Pröschstraße 6 ist seit Jahresbeginn eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der zwei Ärztinnen und sechs weitere Mitarbeiter tätig sind. Ein barrierefreier Zugang mit einer Rampe wurde auf der Rückseite installiert. © Monika Retzlaff | Monika Retzlaff

Über die Folgen bei Kindern ist selbst die Expertin schockiert. Kinder und Jugendliche, die in die Praxis kommen, seien oft schwer erkrankt.

Sie hätten das Vertrauen verloren, dass alles gut wird, seien verunsichert, fühlten sich hilflos, grübelten sehr viel, hielten Druck in der Schule nicht aus, sähen keine Zukunft für sich.

Das äußert sich selbst bei jüngeren Kindern in beklemmenden Fragen wie: „Werden wir uns jemals wieder ohne Abstand begegnen können und uns umarmen dürfen? Geht das für immer so weiter? Wie soll ich die Schule schaffen? Was wird aus mir?“

Im schlimmsten Fall entstehen Existenzängste und gar Selbstmordabsichten. Diese so genannten suizidalen Episoden sind oft schwer und langanhaltend.

Es gibt viele Alarmsignale, die Eltern wahrnehmen können

Auf welche Symptome sollten die Eltern und andere nahestehende Personen achten? „Wenn die jungen Leute keine Freude mehr empfinden, kaum Antrieb haben, der Tag-Nacht-Rhythmus gestört ist, es starke Stimmungsschwankungen gibt und die Kinder und Jugendlichen alles sinnlos finden, sind das Alarmsignale, die ernst genommen werden müssen“, sagt Nathalie Bourgeon. Ärztliche Hilfe ist dann wichtig. Eltern sollten sich in dem Fall kurzfristig darum kümmern.

Doch meistens gibt es sowohl bei den Kinder- und Jugendpsychiatern und Psychotherapeuten lange Wartelisten, weil es zu wenige Ärzte gibt. Nur drei Fachpraxen sind es laut des Ärzteregisters der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Kreis Herzogtum Lauenburg. Nur neun Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche gibt es laut KV im Kreis. Bis zum Termin müssen Eltern also ihr Kind behüten, sich ihm zuwenden und sich nicht scheuen, im Notfall schnelle Hilfe zu rufen (siehe Kasten).

Psychische Leiden enden nicht automatisch mit der Pandemie

„Nach den Pandemiewellen werden wir weiterhin eine große Welle von psychisch leidenden Kindern und Jugendlichen haben“, sagt Nathalie Bourgeon. Daher müsse es mehr Therapiemöglichkeiten geben, denn diese waren vorher schon knapp. Außerdem sei ein anderes Herangehen wichtig, denn oft müsse nicht nur dem Kind, sondern der ganzen Familie geholfen werden.

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Daher sollten die vorhandenen Strukturen überdacht und verändert werden. Denn wenn die Pandemie vorbei ist, seien nicht automatisch die psychischen Auswirkungen vorbei. „Betroffene Kinder und Jugendliche werden noch lange Zeit die Hilfe von Psychiatern und Psychotherapeuten und unserer Gesellschaft benötigen“, sagt Nathalie Bourgeon.