Hamburg. Das Coronavirus nordet uns ein. Die deutschen Küsten sind viel mehr als Notziele in Krisenzeiten. Das wissen nur nicht alle.
Kennen Sie die friesische Karibik, das deutsche St. Tropez oder die Riviera des Nordens? Sie werden sie in diesem Jahr kennenlernen – ob Sie wollen oder nicht. Das Coronavirus hat die Karibik, Riviera und Côte d’Azur in diesem Sommer fast unerreichbar gemacht. Und damit darf man den Wahrheitsgehalt der frohen Botschaften testen, die Tourismuswerber für Föhr, Westerland oder Kühlungsborn ersonnen haben.
In dieser Lautsprecherei schimmert viel Fremdenverkehrs-PR hindurch und zugleich ein verdruckster Minderwertigkeitskomplex im Vergleich zu den Traumzielen des Südens. Das Gras scheint auf der anderen Seite nicht nur viel grüner, sondern das Meer auch viel blauer und der Sand viel weißer zu sein. Warum eigentlich?
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Vielleicht öffnet der zweite Blick die Augen und weitet den Horizont, auch wenn ein Virus uns dazu zwingen mag. Ein kleines Beispiel: Kürzlich zeigte ich Freunden aus Graz Bilder vom Reriker Ostseestrand: Das Meer schimmerte in tiefstem Azur und Türkis, der weiße Sand bildete einen verspielten Streifen vor einer malerischen Steilküste, bewachsen mit einem tiefgrünen Urwald. „Wo war das denn?“, fragten die Steirer verzückt, die keine drei Autostunden von der Adria entfernt leben. Die Antwort kommentierten sie so kurz wie verwundert: „Warum fahrt ihr Deutschen eigentlich alle ans Mittelmeer?“
Ja, warum eigentlich? Als wir klein waren, brauchten wir noch keine Flugzeuge fürs Ferienglück, keine südliche Sonne für die Sommerfrische, keine Sternehotels für himmlische Wochen. Unsere Sehnsucht lag am Ende der Autobahn.
Amrum und die Nordsee haben mich sozialisiert: Schon als laufender Meter, beladen mit Gummitier, Capri-Sonne und Handtuch, stakste ich über schier endlose Bohlenwege dem Meer entgegen. Über uns brannte die Sonne des Nordens, die nicht nur in verklärten Erinnerungen, sondern auch in aktuellen Wetterstatistiken deutlich häufiger scheint als auf dem Festland.
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Um mich herum lag ein endloses Hügelland aus Sand, in dem gekrümmte Kiefern, Dünenrosen und Strandhafer keinen Schatten spendeten. Unter meinen Zehen spürte ich das Holz, das wir eigentlich nie ohne Schuhe betreten durften und doch immer barfuß beschritten. In unseren Nasen vermengte sich der Duft der Sonnenmilch mit dem feinen Salz des Meeres, und in unseren Herzen wuchs die Hoffnung, endlich das ersehnte Meer zu erreichen. Manchmal verfluchten wir, dass der Herrgott dem Paradies die Dünen vorangestellt hat.
Doch mit dem ersten Blau verschwand alles Hadern: Dort fanden wir einen Sandkasten, groß wie eine Wüste, ein Schwimmbad, groß wie ein Ozean, einen Urlaub wie eine Verheißung. Nord- und Ostsee glichen Wunderwelten, weil wir uns noch wundern konnten. Später ist unser Fernweh gewachsen, dann unsere Ansprüche und unser Bonusmeilenkonto. Das Staunen blieb auf der Strecke. Weite wurde eine Frage der Entfernung, Wildnis eine von Exotik, Urlaub eine des Preises. Borkum war für Kleingeister, Sylt für Gernegroße, die Ostsee ein Spießerparadies. Unser Urlaubsfeld war die Welt.
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Vielleicht müssen wir diesen Sommer unsere Ray-Ban-Sonnenbrille abnehmen und die Welt wieder mit Kinderaugen betrachten. Die heimischen Gestade mögen uns klein erscheinen – aus einer anderen Perspektive werden sie groß.
Denn das sind sie, weil die Küste mehr Schattierungen hat, als unsere Vorurteile vom Urlaub am heimischen Meer erahnen lassen: Sylt, die mondäne Königin der Nordsee mit Nachtleben und Tagträumereien, das kinderfreundliche Föhr, wo das Meer über Stunden verschwindet, das Surferparadies St. Peter-Ording, die sieben ostfriesischen Inseln, alle unterschiedlich, alle zugleich faszinierend. Oder Helgoland – noch immer ein verkanntes Eiland: Wenn die Tagesgäste weg sind und der Fuselfelsen sich in eine faszinierende Mischung aus Lummerland und Lummenland verwandelt.
Oder die Ostsee, die abwechslungsreichen Inseln Rügen, Usedom mit dem längsten Sandstrand der Republik oder Fehmarn, der urwüchsige Darß, die Ostseeküste in Mecklenburg mit der alten hanseatischen Backstein-Architektur und ihren mondänen Seebädern der Belle Époque … Oder die schleswig-holsteinische Küste, die sich in den vergangenen Jahren vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan gemausert hat. Oder, oder, oder.
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Manche halten Damp 2000 oder die Betonsünden von Westerland, diese ganzen irrlichternden Versuche bundesdeutscher Seebäder, große weite Welt zu spielen, noch immer für die Küstenrealität. Sie denken, Resopaltische, Frittenfett und Zigeunerschnitzel seien die gastronomische Gegenwart und spießige Ferienwohnungen im Sperrmüll-Stil nach wie vor der Standard.
Sie alle werden sich nun wundern: über idyllische Dörfer, ambitionierte Restaurants, über Wildnisse jenseits von Wasser und Watt, über verwunschene Ecken – und ganz viel Platz. Eineinhalb bis zwei Meter Corona-Sicherheitsabstand sind hier serienmäßig inklusive – ohne dass man es groß beachtet. Und im Gesicht tragen wir eine Maske, gemacht aus feinem Sand und Sonnenmilch.
Urlaub 2020 ist, was wir daraus machen: In diesem Jahr kann man vielleicht nicht viele Kilometer machen, aber neue Horizonte erschließen: das vermeintlich Bekannte neu entdecken, das bislang Übersehene in den Blick nehmen, das eigene Land anders kennenlernen. Und allen, denen das nicht gefällt, bleibt ein Trost: Karibik, Riviera und die Côte d’Azur machen auch irgendwann wieder auf.
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