Schleswig-Holstein. Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Bernd Buchholz (FDP) über die Einschränkungen der Grundrechte und die Pläne für den Herbst.

„Ausgesprochen gut!“ Mit diesen kurzen Worten bewertet Bernd Buchholz (59) im Sommerinterview mit dem Abendblatt die Arbeit der in Schleswig-Holstein seit 2017 regierenden Koalition aus CDU, FDP und Grünen. Eine solche Jamaika-Koalition kann sich der Wirtschaftsminister und FDP-Politiker auch für den Bund vorstellen.

Hamburger Abendblatt: Herr Buchholz, wie war Ihr Sommerurlaub?

Bernd Buchholz: Sehr schön. Bei bestem Wetter haben wir uns vom Plöner See aus das ein oder andere touristische Ziel in Schleswig-Holstein angeschaut – inkognito. Wir haben viele tolle Fahrradtouren gemacht, waren am Strand, sind um Seen spaziert. Wir haben Schleswig-Holstein in vollen Zügen genossen. Seit zehn Jahren verbringen wir den Sommerurlaub im eigenen Land. Dann ist es hier am schönsten.

Rechnen Sie mit einer vierten Corona-Welle, wenn die Menschen, die ihren Urlaub nicht in Schleswig-Holstein verbracht haben, sondern in Risikogebieten jetzt zurückkehren und sich das Leben mit der Zeit dann auch wieder mehr nach drinnen verlagert?

Buchholz: Ich rechne mit einem Ansteigen des Infektionsgeschehens. In der reinen Inzidenzbetrachtung dürfte sich das wahrscheinlich als Welle darstellen. Aber ich rechne wegen der hohen Impfquoten, die wir in den nächsten Wochen erreichen werden, nicht mehr mit einer so starken Belastung unseres Gesundheitssystems und nicht mehr mit so vielen schweren Krankheitsverläufen. Insofern ist die Situation eine völlig andere. Sollte es nicht zu einer weiteren Virusmutation kommen, gegen die die Impfungen unwirksam wären, sehe ich die Gefahr eines weiteren Lockdowns nicht mehr, wenn alle die Chance haben und hatten, sich impfen zu lassen.

Wird es mit der FDP nochmals einen Lockdown in Schleswig-Holstein geben?

Buchholz: Aus unserer Sicht nicht. In der gegenwärtigen Situation kann ich mir nicht vorstellen, dass das Ansinnen überhaupt aufkommt. Es gibt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Deutschland. Wenn die Menschen die Möglichkeit haben, sich selbst durch eine Impfung zu schützen, ist es keine staatliche Aufgabe mehr, diejenigen zu schützen, die das nicht wollen. Sich impfen zu lassen, ist eine Frage der Selbstvorsorge.

Aber das Interesse an Schutz durch eine vollständige Impfung lässt nach. Bereitet Ihnen die Entwicklung keine Sorge?

Buchholz: Sie müssen die Gesamtzahlen betrachten. Wir sind in Schleswig-Holstein 2,8 Millionen Menschen. Davon ist eine nicht unerhebliche Zahl nicht impffähig. So die Kinder. Wenn man diese Gruppe abzieht, sind wir bei rund 2,4 Millionen Menschen, die sich impfen lassen können. Aktuell sind wir bei rund 1,8 Millionen Geimpften. Wenn die Entwicklung etwas anhält, sind wir bald bei nahezu 80 Prozent der Impffähigen. Eine übergroße Mehrheit hat das Gefühl, dass diese Impfung wichtig und richtig ist.

Wäre es vor dem Hintergrund der stockenden Impfkampagne und der hohen Fehlerquote der Corona-Tests nicht sinnvoll, vollständig Geimpften mehr Freiheiten zurückzugeben als Getesteten – beispielsweise beim Kneipen- oder Konzertbesuch?

Buchholz: Mit Freiwilligkeit erreichen wir eine ganze Menge. Es gibt für den Staat kein Recht, vollständig geimpften Menschen Grundrechte zu verweigern. Dazu gehören Besuche von Kinos, Theater oder Konzerten. Es wird sich automatisch ergeben, dass Betreiber oder Anbieter sagen ,Bei uns kommen nur noch Geimpfte, Genesene oder Getestete rein.‘ Das erleben wir aktuell auf Sylt. Wir haben als Land die Testpflicht in der Innengastronomie als nicht mehr erforderlich abgeschafft. Aber Gastronomen entscheiden, ob ein aktueller Test vorliegen muss. Das ist deren gutes Recht. Also werden sich Gäste fragen, ob sie sich wirklich alle zwei Tage – vielleicht sogar kostenpflichtig – testen lassen oder doch impfen.

Sie sehen also keinen Handlungsbedarf aktuell für die Politik?

Buchholz: Unser Handlungsbedarf besteht darin, die Grundrechtseinschränkungen aufzuheben, wenn es dafür keinen Grund mehr gibt. Wir waren zuletzt dazu übergegangen, Lockerungen zu rechtfertigen. Aber es muss andersherum sein: nämlich Freiheitsrechte wieder zu gewähren. Für einen liberalen Minister steht das absolut im Vordergrund.

„Schleswig-Holstein ist vom Overtourism so weit entfernt wie die Erde vom Mars“, haben Sie die Tage formuliert. Wer am Wochenende in der Lübecker Bucht oder in St. Peter-Ording war oder dort lebt, dürfte Ihnen widersprechen …

Buchholz: Wir haben an einigen wenigen Wochenenden im Hochsommer, wenn auch viele Tagestouristen da sind, sehr sehr volle Top-Destinationen wie die Lübecker Bucht oder St. Peter-Ording. Aber von Overtourism sprechen wir bei Massentourismus über einen weiten Zeitraum; wenn man, wie auf den Kanarischen Inseln, vor Betonburgen steht und das Wasser nicht mehr sieht. Von dieser Situation sind wir meilenweit entfernt.

Der Andrang auf die bekannten Badeorte ist schon sehr groß …

Buchholz: In diesem Jahr haben wir eine sehr interessante Situation, weil viele Leute keine Fernreise machen wollen. Deshalb kommen viele Menschen zu uns, die Quartiere sind sehr gut gebucht. Aber wir haben in den vergangenen Jahren trotz vieler Hotelneueröffnungen keine zusätzlichen Kapazitäten aufgebaut. Wir stagnieren, in manchen Orten ist die Bettenkapazität sogar leicht rückläufig, weil viele ältere Betriebe aus dem Markt ausgestiegen sind und durch neue, qualitativ hochwertige ersetzt wurden. Das Wachstum im Tourismus muss durch ein qualitatives Wachstum entstehen, nicht durch ein kapazitatives. Wachstum muss auch generiert werden durch eine Ausweitung der Kapazität in der Saison. Schleswig-Holstein muss im Februar/März oder Oktober/November genauso attraktiv sein wie im Sommer. Davon sind wir noch ein ganzes Stück entfernt. Das Ziel muss sein, dass Schleswig-Holstein eine Ganz-Jahres-Destination wird.

Dennoch werden immer wieder Forderungen nach Steuerung der Touristenströme oder einem Moratorium bei Übernachtungsbetten laut. Was sagen Sie den Bewohnern, die sich im Hochsommer fremd oder unwohl in ihrer Heimat fühlen?

Buchholz: Ich verstehe, dass man sich an Wochenenden wie zuletzt als einheimische Bevölkerung unwohl fühlt. Wir brauchen zum Beispiel neue Verkehrskonzepte, damit eine Gemeinde wie St. Peter-Ording nicht mit Autos zugestellt wird. Die können vielleicht auch außerhalb geparkt werden, wenn es ein Shuttlesystem zum Strand gibt. Darüber müssen wir nachdenken. Ich finde es schade, dass neue Hotelprojekte per Bürgerbegehren abgelehnt werden, statt vernünftige Verkehrskonzepte zu entwickeln und so die Probleme in den Griff zu bekommen, die die Menschen stören. Warum so viele Tagesgäste meinen, gleich hinter Lübeck die erste Ausfahrt von der Autobahn 1 nehmen zu müssen, um dann den ersten Küstenstreifen an der Ostsee anzusteuern, ist mir unklar. Wir haben in Schleswig-Holstein 1129 Kilometer Küste. Da ist für jeden Platz.

Die wichtigsten Corona-Themen im Überblick

Der aber nicht so genutzt wird, wie es der Minister gern hätte?

Buchholz: Es ist in der Hochsaison an schönen Wochenenden nicht schlau, wenn Tagesgäste sich dann auch noch die Top-Destinationen aussuchen. Damit sorgen sie für Stau und Tourismusinakzeptanz. Wir brauchen digitale Konzepte zur modernen Besucherlenkung wie wir es schon in der Lübecker Bucht haben, also ein sensorgestütztes System, mit dem man schon bei der Abfahrt zu Hause sehen kann, wie voll es am Strand oder auf den Parkplätzen ist. (Siehe auch Infokasten.)

Die Strandampel
Der Strandticker der Lübecker Bucht informiert über die aktuelle Auslastung an den Ostseestränden von Niendorf, Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Haffkrug, Sierksdorf, Neustadt, Pelzerhaken und Rettin. Ziel ist es, Besucherströme zu lenken. 21 Strandabschnitte werden einzeln mit einem Ampelsystem dargestellt. In einer Übersichtskarte sind auch strandnahe Parkplätze und DLRG-Türme zu finden. Das Projekt wurde 2020 mit dem zweiten Platz der Jury und dem ersten Platz des Publikums mit dem deutschen Tourismuspreis ausgezeichnet – gemeinsam mit einem Projekt in St. Peter-Ording. Kameras registrieren dort in der Fußgängerzone, an Strandübergängen und auf Parkplätzen die Bewegungen, die Daten werden digital ausgespielt. So erfahren Besucher, wie voll es wo ist.   Die Strandampel der Lübecker Bucht ist im Netz zu finden unter: https://www.luebecker-bucht.guide/beachticker

Kaum ein anderer Minister war in den zurückliegenden Monaten so präsent wie Sie als Wirtschaftsminister und Ihr Parteifreund Heiner Garg als Gesundheitsminister. Die Wahrnehmung Ihrer Arbeit ist deutlich gestiegen. Können Sie der Pandemie somit auch etwas Positives abgewinnen?

Buchholz: Ich hätte gern auf die gestiegene Wahrnehmung verzichtet – im Interesse der Menschen, der Wirtschaft und des Landes Schleswig-Holstein. Diese besondere Wahrnehmbarkeit hat etwas damit zu tun, dass wir hier sehr aktiv die Pandemie gemanagt haben aus diesen beiden Ministerien. Ein Beispiel sind die von uns nach Ostern entwickelten vier touristischen Modellprojekte. Die führten zu hohen Übernachtungszahlen schon im Mai, aber auch zu bundesweiter Aufmerksamkeit.

Wie bewerten Sie die Arbeit der Jamaika-Koalition wenige Monate vor Ende der Legislaturperiode?

Buchholz: Ausgesprochen gut. Ich hatte zu Beginn der Legislaturperiode meine Zweifel, wie gut wir regieren können bei drei so unterschiedlichen Partnern. Es ist dann viel besser geworden, als ich es mir je vorgestellt hatte. Wir haben einen Modus gefunden, wie alle Partner zu ihrem Recht kommen. Diese Koalition ist sehr lösungsorientiert. Das finde ich wohltuend. Auch im letzten Jahr vor der Landtagswahl können noch viele Dinge gut funktionieren.

Welche Schulnote würden Sie der Koalition geben?

Buchholz: Eine Zwei, wir waren gut. Man kann es noch besser und sehr gut machen. Wir haben in der Pandemie auch Fehler gemacht, wir mussten uns korrigieren, es hat Unplausibilitäten in den Regelungen gegeben. Aber insgesamt war das gut. Wir haben beispielsweise Hand in Hand gearbeitet bei der Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie. Das zeichnet diese Jamaika-Koalition aus.

Können Sie sich eine Fortsetzung der Koalition nach der Landtagswahl im kommenden Mai vorstellen?

Buchholz: Ja, ich kann mir das vorstellen. Eine freie demokratische Partei wird nirgendwo mitmachen, wo sie nicht gebraucht wird. Und so ist unser Ziel, dass eine Regierung nur mit einer FDP möglich sein wird. Und das kann dann auch eine Jamaika-Koalition sein.

Ist „Jamaika“ nach Ihren Erfahrungen in Schleswig-Holstein ein Modell auch für den Bund nach der Wahl im September?

Buchholz: Es ist jedenfalls eine Möglichkeit und auch nicht die schlechteste. Wenn ich wählen dürfte zwischen einer schwarz-grünen Koalition und einer Jamaika-Koalition wäre ich für Jamaika – nicht nur, weil die FDP dann beteiligt wäre, sondern auch, weil es fürs Land besser wäre. Für den Bund wäre das ein spannendes Modell. Wichtig ist der Impetus, gemeinsam etwas für ein Land zu wollen, gemeinsam gestalten zu wollen. Diesen Willen habe ich zwischen Menschen wie Daniel Günther, Monika Heinold, Robert Habeck, Christopher Vogt, mir und anderen gesehen, und den haben wir dann ausgearbeitet. Wir wollten etwas bewegen, das Land nach vorne bringen. Und das haben die Menschen nach einer Weile gemerkt und honoriert. Das kann ich mir für den Bund mit einer Jamaika-Koalition auch sehr gut vorstellen.