Von der Seekrankheit bis zum Herzinfarkt: Die Arbeit der Bordärzte ist vielfältig und dauert 24 Stunden pro Tag – dramatische Situationen sind zum Glück selten
Blütenweiße Uniform, eine Erscheinung, nach der sich vor allem die weiblichen Passagiere gern umdrehen, tröstende Worte an Deck oder beim Ausflug unter Palmen. Hier ein Pflaster, da eine vermeintlich schwere Krankheit, die aber meistens rasch im Griff ist. Ansonsten: etwas Liebesleid, viel Sonnenschein und noch mehr Tralala.
So in etwa sieht der Alltag des Bordarztes Dr. Sander alias Nick Wilder auf dem „Traumschiff“ im Fernsehen aus. Im wahren Leben, also auf einer echten Kreuzfahrt, gelten andere Prioritäten. Der „Doc“, wie er von der Besatzung, aber auch vielen Passagieren genannt wird, hat in der Regel einen 24-Stunden-Job, nicht selten über Wochen, und eine immens hohe Verantwortung. Sie steigt noch einmal mit der Entfernung von allen Küsten, erst recht in so entlegenen Fahrtgebieten wie der Antarktis, den Weiten des Pazifischen Ozeans oder auf dem Wege von Hamburg nach New York: kein Krankenhaus weit und breit, kein Hubschrauber möglich, Land in Sicht erst in fünf und mehr Tagen.
Weltweit gilt die Regel, dass für 100 und mehr Passagiere und Fahrten ab drei Tage mindestens ein Arzt, für Schiffe ab 800 Passagiere zwei Ärzte zur Verfügung stehen müssen. Renommierte Experten wie der ehemalige Chef der Deutschen Gesellschaft für Maritime Medizin, Dr. Klaus Seidenstücker, finden das zu wenig. Mindestens einen Mediziner mehr auf jedem Kreuzfahrtschiff dieser Größenordnungen fordert auch der Chirurg Dr. Christian Ottomann, Leiter der Schiffsarztbörse in Lübeck, der einzigen deutschen Vermittlungsstelle für solche Einsätze. Verstärkt müsse das für die neuen Giganten der Meere gelten, die mit 6000 und mehr Menschen unterwegs sind.
Angelina Köhler ist bei Tui Cruises zuständig für die Besetzung der Arztposten auf den sechs „Mein Schiff“-Dampfern. Auch sie stellt die Härte dieses Berufes an Bord nicht in Abrede, verweist aber auf die geringere Patientenzahl von bis zu 40 pro Tag im Vergleich zur Praxis an Land. Sie nimmt sich drei bis vier Stunden Zeit, um jeden einzelnen Bewerber vor einem Einsatz kennenzulernen. Erst dann schickt sie sowohl jüngere Praktiker als auch Pensionäre an Bord, also Ärzte, die an Land nicht mehr praktizieren, „ein Mix, der sich bewährt hat“.
Kaum jemand hat so viel Praxis auf See wie Dr. Brigitte Fleischer-Peter. Als Internistin, Kardiologin und Notfallmedizinerin entspricht sie dem internationalen Anforderungsprofil. Seit 1990 ist sie immer wieder wochenlang und weltweit auf Forschungsschiffen, Luxusdampfern von Hapag-Lloyd Cruises oder den Großseglern der Sea-Cloud-Reederei unterwegs. Alle Küsten, alle Meere, alle denkbaren und undenkbaren Situationen an Bord hat die Berlinerin dabei kennengelernt: von Atemwegserkrankungen und Magen-Darm-Problemen, beides kommt häufig vor, über Knochenbrüche, die auch bei Landausflügen passieren, bis hin zu eher seltenen Herzinfarkten oder Schlaganfällen.
Einen Fall von Glück im Unglück habe ich kürzlich selbst auf einem Kreuzfahrtschiff in der Antarktis erlebt. Dem Arzt gelang es, eine Passagierin nach einem Herzinfarkt im Bordhospital zu stabilisieren, bis sie nur Stunden später auf den Falklandinseln ins Krankenhaus gebracht werden konnte. 1500 Kilometer weiter südlich, im Eis vor der antarktischen Halbinsel, hätte die Frau wohl kaum eine Chance gehabt.
Es ist herausfordernd und spannend, an Bord zu arbeiten
Wenn, zum Beispiel auf dem Cunard-Flaggschiff „Queen Mary 2“, über Lautsprecher der Code Alpha ertönt, heißt das Alarm, höchste Konzentration. Eine solche Durchsage galt kürzlich einem Crew-Mitglied, das sich am Bauch verletzt und sich innere Blutungen zugezogen hatte. Der Mann wäre verblutet, wenn sich nicht zehn Passagiere mit der Blutgruppe AB gefunden hätten. Sie alle spendeten bis an die jeweilige Grenze, denn die Blutungen waren kaum zu stoppen. Es ging um wenige Stunden, schließlich um Minuten, bis ein Hubschrauber mit weiteren Konserven an Bord den Verunglückten 100 Meilen vor der US-Küste aufnehmen konnte.
Solche Dramen passieren selten und fast nur während langer Seetage, weit weg vom nächsten Hafen. Aber auch der Mediziner-Alltag auf ein- oder zweiwöchigen Törns, bei denen fast jeden Tag ein Hafen angelaufen oder „unter der Küste gesegelt“ wird, ist alles andere als stressfrei. Wie ihre Kollegen betont Brigitte Fleischer-Peter, wie herausfordernd es sein kann, stets abrufbar zu sein. Und zugleich: wie erfüllend, wie spannend, die Welt auf diese Weise zu umrunden. Nach reichlich Schaukelei und Segelei, manchmal 17 Tage am Stück, weiß sie natürlich, dass viele Passagiere nichts so fürchten wie die Seekrankheit. Ihr Mittel der Wahl ist der Wirkstoff Cinnarizin, als Tabletten, Tropfen und Kapseln erhältlich.
Eine solche Verschreibung kostet 15 bis 20 Euro, zu zahlen meistens am Ende der Reise. Privatpatienten bekommen alle Konsultationen und die meisten Medikamente von ihrer Versicherung erstattet. Auch wer gesetzlich versichert ist, kann Rechnung und Rezept seiner Krankenkasse meist mit Erfolg einreichen, allerdings nicht, wenn daraus hervorgeht, dass es sich um Prophylaxe im Gegensatz zur Akutbehandlung gehandelt hat. Die meisten Passagiere, vor allem die Wiederholer, die sogenannten Repeater, beugen ohnehin mit einem Mittel vor, das ihnen schon mehrmals geholfen hat. Auch Impfungen, das empfehlen alle Bordmediziner, sollten in angemessenem Abstand vor der Reise absolviert werden. Wenn aber vorab tatsächlich eine amtlich vorgeschriebene Impfung versäumt wurde, etwa gegen Gelbfieber in manchen Regionen Afrikas, wird an Bord nachgeimpft. Immunvorsorge gegen Tetanus und Diphtherie gehören sowieso zum Tagesgeschäft. Grippe-Impfungen, die nicht jeder sofort verträgt und die deswegen das Reisevergnügen schmälern können, sollten dagegen deutlich vor der Abfahrt „erledigt“ werden.
Zu Beginn einer jeden längeren Seereise laden die Bordärzte ihre Kollegen unter den Passagieren zu einem Kennenlern-Cocktail ein. Dabei erfahren sie auch, aus welchen Fachrichtungen diese kommen. Jeder Internist oder Kardiologe und erst recht der betroffene Passagier freut sich, wenn sich etwa ein mitreisender Zahnarzt bereit erklärt, im Notfall zu helfen. „Das beruhigt mich jedes Mal“, gibt Dr. Georg Gagesch zu. Der Internist hat seine Praxis in Hamburg vor Kurzem verkauft und ist jetzt, im „Unruhestand“, unterwegs in entlegenen Seeregionen auf dem Expeditionsschiff „Hanseatic“. Er trägt den Äskulapstab auf der Uniform, drei dicke Streifen am Ärmel weisen ihn, wie alle Schiffsärzte, als hoch respektiertes Crew-Mitglied im Offiziersrang aus.
Ohne Krankenversicherung sollte niemand verreisen
„Sein“ Hospital ist, ähnlich wie auf anderen renommierten Kreuzfahrtschiffen, mit einem kleinen Operationsraum bestens ausgestattet, dazu mit einem Überwachungsraum für Herzpatienten und vielen gängigen Untersuchungsmöglichkeiten, ähnlich wie an Land. Laborbefunde stehen sogar deutlich schneller zur Verfügung. Katheter allerdings können nicht gesetzt werden, auch CT und MRT sind auf deutschen Schiffen noch nicht möglich. Röntgengeräte hingegen gehören auf den großen Spaßschiffen, wie sie von Deutschen gern gebucht werden, zum Standard. Die Meyer-Werft in Papenburg hat allerdings im Herbst 2016 das erste Kreuzfahrtschiff mit einem MRT-Gerät an die chinesische Reederei Dream Cruises übergeben.
Ob geringe Kosten für ein paar Magentabletten und einen guten Rat bei Sonnenbrand oder der hohe Aufwand bei Notfällen und Rückflügen in die Heimat: Ohne umfassende Krankenversicherung, die alle Eventualitäten einschließt, sollte niemand eine Reise antreten. Aber gefragt sind auch, mahnen erfahrene Bordmediziner, eine kritische Selbsteinschätzung und ein gründlicher Check-up vor langen Seetörns in ferne Gewässer. Dr. Christian Ottomann will niemandem die Sehnsucht oder das Fernweh nehmen. Aber: „Nicht jeder, der sich für fit hält, ist tropen- oder polartauglich.“ Umgekehrt hilft aber auch das gute alte Grundvertrauen, ein großes Erlebnis sicher zu gestalten.