Las Vegas lockt Touristen aus aller Welt in die Wüste. Rund um die riesigen Hotels fühlt sich die Kunstwelt an wie ein gigantischer Freizeitpark. Die Stadt hält mehr bereit als das Zocken.
Las Vegas schickt einen nächtlichen Gruß in den Himmel, noch bevor die 747 aufsetzt. Der Lichtstrahl, der aus der schwarzen Glaspyramide des Hotels Luxor nach oben zeigt, macht dem Fluggast endgültig klar, wo er ist: in einem gigantischen Freizeitpark. Mythos Las Vegas. Doch die Stadt ist modern, real, bodenständig. Wenngleich die meisten Besucher wegen der Shows, der Casinos und der künstlichen Welten kommen, so hat Las Vegas weit mehr zu bieten als das bekannte Bild vom „Strip“.
„Ich kann die Leute nicht verstehen, die die ganze Zeit nur im Casino sitzen“, sagt Conor, der Hubschrauberpilot, während er auf die Hoover-Talsperre zusteuert. Er und seine rund 60 Kollegen fliegen dreimal täglich zum Grand Canyon. „Ich bin hier das Mädchen für alles“, sagt Conor grinsend. „Pilot, Fremdenführer, Fotograf, Filmer und Kellner.“ Die Kühlbox ist mit an Bord, darin Gebäck, Saft und Sekt. Wir fliegen den Lake Mead entlang, den Stausee, der nicht nur Nevada, sondern weite Teile der Weststaaten mit Wasser versorgt. Er speist sich aus dem Colorado River, dessen Wasser vor Jahrmillionen die tiefen Täler geschaffen hat. Und bizarre Felsformationen in rötlichen und gräulichen Schattierungen. „Hier kann man oft Hornschafe sehen“, berichtet Conor. Heute zeigen sie sich aber nicht. Wie ein Insektenschwarm sieht dafür die Hubschrauberflotte aus, die jetzt auf einem Plateau über dem Colorado landet. Ein Picknickplatz mit Tischen, Sonnenschirmen und – man weiß ja nie – einem Defibrillator hinter Glas. Ob die Norweger am Nebentisch sich hier wie zu Hause fühlen? Sieht doch ein bisschen aus wie am Fjord. Conor schenkt Sekt aus und macht Fotos von den Ausflüglern. Auf dem Rückweg ein kurzer Tankstopp im Nirgendwo, und es geht zurück zum „Strip“.
Las Vegas und der „Strip“ – das ist für die meisten eins. Hier reihen sich große Hotels aneinander. Die meisten von ihnen gehören zwei Konzernen – auf der einen Seite der MGM Group, auf der anderen Caesars Entertainment. Hotel ist deutlich untertrieben: Die bahnhofshallengroßen Gebäude sind Bettenburg, Einkaufsmeile, Musicaltheater, Gourmettempel und Casino in einem. Im Foyer des MGM Grand geht es entsprechend zu wie auf dem Bahnhof: Hier stehen die Gäste Schlange beim Einchecken, dort flanieren die Besucher durch die Läden und das Casino, werden mit Popmusik beschallt, ein künstlicher Zitrusgeruch und die immer ein bisschen zu kühl eingestellte Klimaanlage vervollständigen die Kunstwelt. Vor und hinter den Kulissen arbeiten hier 10.000 Menschen. Ein Grund, weswegen Las Vegas auch als Wohnort attraktiv ist: Es gibt Arbeitsplätze, die Einwohner genießen hohe Lebensqualität mit guten Schulen, Freizeiteinrichtungen, schönen Wohngebieten und der nahen Natur. „Ich habe einen Hund und bin viel draußen“, sagt Nicole aus der Marketingabteilung des Hotels Cosmopolitan.
Ganz Mutige können an einem Drahtseil hängend den Boulevard entlangrasen
Las Vegas ist auch eine Stadt der jungen Leute, die hierher zum Arbeiten kommen. Eben doch eine „normale“ Welt. Am „Strip“ dagegen spiegelt sich wider, dass die meisten Amerikaner nur einige Tage im Jahr Urlaub haben und auf wenigen Quadratkilometern die Welt im Kleinformat vorfinden. Eiffelturm, Freiheitsstatue, Pyramiden, Venedigs Lagunen – alles da. Vollgestopft ist der „Strip“, mit ausrangierten Flugzeugen, modernen Monorail-Bahnen und einer Achterbahn. Shoppingmalls unter unechtem Abendrothimmel, Gondelfahrt auf dem „Canal grande“ inklusive. Vor dem Mirage spuckt ein künstlicher Vulkan ab 18 Uhr halbstündlich Feuer, ganztags spritzen die Fontänen vor dem Bellagio Wasser bis in 30 Meter Höhe.
Der „Strip“ ist relativ neu, und er wächst weiter. Das alte Herz von Las Vegas aber schlägt – jetzt wieder – an der Fremont Street, seinerzeit die erste Asphaltstraße der Wüstensiedlung. „Downtown“ erlebt eine Renaissance. Die ersten Zockerparadiese wie das Golden Nugget oder das Stardust erstrahlen in altem Glanz. Aber erst bei Nacht so richtig, wenn Tausende Glühlampen aufblinken und aus dem unscheinbaren Glasdachgewölbe über der Fremont Street ein LED-Feuerwerk leuchtet. Darunter können Mutige, die den Kick suchen, an einem Drahtseil hängend den Boulevard entlangrasen.
Unweit davon haben sich kleine Modedesignerlädchen angesiedelt, und mit dem Container Park findet sich nebenan ein kleines Gründerviertel. Hier feiert Las Vegas jährlich im Oktober das „Life is Beautiful“-Festival. Angesagte Bands auf vier Bühnen, Kochshows, Kunstausstellung und Performance locken an drei Tagen 90.000 Besucher. Die Geschichte der Stadt in Kurzform lässt sich am besten erkunden im Mob Museum der organisierten Kriminalität. Es zeigt, wie Las Vegas wurde, was es ist – und das ist keine schöne, aber doch faszinierende Geschichte. Glücksspiel, Geldwäsche, Prostitution, Korruption spielen eine Rolle. Wie man Glücksspielautomaten manipulierte und Schwarzgeld „abschöpfte“ wird hier ebenso gezeigt wie die Erfolge gegen die Mafia. Außerdem können Besucher als Verbrecher in der Gegenüberstellung posieren, Schießen üben oder Gangster-Geheimsprache lernen. Wem es gefallen hat, der wirft einige Dollar in die Box mit der Aufschrift „Auch nicht kommerzielle Einrichtungen brauchen Schutzgeld“ – man muss ja nicht gleich in den Förderverein eintreten.
Einen Förderverein hat auch das angehende Museum für Zeitgenössische Kunst gegründet. Genauer, ein Fundraising, denn das Museum gibt es noch gar nicht, der Bau ist für 2016 oder später angedacht. Doch der Anfang ist gemacht: 18b heißt das Künstlerviertel, in dem sich die Kreativen niedergelassen haben. Im Lädchen Reclaimed werden abgelegte Gebrauchsgegenstände zur Kunst, bei Workshops kann jeder mitmachen. Material ist genug vorhanden. Sogar eine bayerische König-Ludwig-Fahne. Geschäftsinhaberin Jenny ist beglückt über den deutschen Besuch: „Endlich erklärt mir jemand, was das sein soll.“ Die Ateliers sind zu Fuß erreichbar, besonders lohnenswert ist die Art Factory, in der sich Künstler auf zwei Ebenen niedergelassen haben. So wie Alexander Huerta. Noch pendelt er täglich 30 Minuten von seinem Haus in die Stadt. Bald will er in die Nähe zur Art Factory ziehen: „Inzwischen kann ich von meiner Kunst leben.“
Ein „Friedhof der Leuchtreklamen“ ist das Neon-Museum. Ein Freilichtmuseum, da die Konstruktionen aus Metall, Glas und Drähten für jegliche Gebäude viel zu groß sind. Sie sind Sonne und Wind ausgesetzt, was die Friedhofsromantik unterstreicht. Gleichwohl werden – sofern das Budget es erlaubt – Exponate restauriert, was aber eher dem Erhalt der Konstruktion dient als einer echten Erneuerung. Riesige Schriftzüge mit Tausenden Lampen – die meisten zersplittert. „MlinougRoue“ steht da, „weil ,Moulin Rouge‘ nicht hinpasste“, wie Museumsguide Floris erklärt. „Den liegenden Totenschädel schauen Sie sich am besten auf Google Maps an“, rät sie.
Im Theater des Ballys Hotels empfängt uns Julie, Solotänzerin in der Jubilee-Show, die seit 33 Jahren fast unverändert läuft. Erst in diesem Januar sind einige Elemente überarbeitet worden. Welche dies sind, werden wir später sehen. Jubilee knüpft an die Lido-Show aus dem Stardust von 1958 an, eine klassische Revue nach Pariser Art mit pompösen Kostümen, Oben-ohne-Tänzerinnen, Pyrotechnik und gigantischen Kulissen. Während sich das Publikum bespaßen lässt, leisten Darsteller und Bühnenarbeiter hinter den Kulissen Schwerstarbeit. Rund 20 Kilogramm wiegen die schwersten Kostüme mit Kopfschmuck, Flügelkonstruktionen und Swarovski-Steinen. Damit müssen die Mädels tanzen und zugleich unbeschwert aussehen. „Das ist vor allem dann sehr schwierig, wenn die Kostüme asymmetrisch sind. Man muss ja ständig ausbalancieren“, sagt Julie. Die Show ist pompös, aber sind blanke Brüste auf der Bühne noch eine Sensation? Und erinnern die Choreografien nicht an das ARD-Fernsehballett? Die Modernisierung tat not, die Tanzeinlage zweier beatboxender Herren in Weiß kommt beim Publikum am besten an. Erfrischend auch die Solo-Sängerin, die als einzige keine Modelmaße hat und gerade deshalb sexy wirkt. Las Vegas hat zum Glück für jeden Geschmack die passende Show. Für Alt-Rock-’n’-Roller wie für Teenies: Ja, auch Britney Spears tritt hier auf! Der Cirque du Soleil bestreitet allein acht Shows, und auch David Copperfield zaubert. Elvis und Michael Jackson leben hier weiter – nicht nur als billige Straßenmusiker-Kopie am berühmten „Welcome“-Schild.
Am High Roller kommt keiner vorbei. Die Werbung für das höchste Sightseeing-Riesenrad der Welt ist allgegenwärtig. Während der halbstündigen Fahrt lässt sich der „Strip“ von oben betrachten. Wer mag, kann eine Gondel mit Bewirtung für eine geschlossene Gesellschaft buchen. Der High Roller steht am Ende des Linq, der Fußgängerzone, die wie das Riesenrad selbst erst 2014 eröffnet wurde.