Am südwestlichen Zipfel Portugals beginnend, führt die 300 Kilometer lange Route der Via Algarviana auf 14 Teilstücken über eine Steilküste und durch Dünen bis ins Kalksteingebirge
Anfang oder Ende? Am schroffen Kliff vom Cabo de São Vicente stürzt sich das Land wagemutig in den Ozean. Ein rot-weißer Leuchtturm markiert den südwestlichsten Zipfel Portugals, ja sogar ganz Kontinentaleuropas. Hinter dieser Steilküste begann im 15. Jahrhundert die Fahrt ins Ungewisse – nach Afrika, Brasilien und Indien. Dort war es, wo die Abenteuer der Seefahrernation anfingen.
Heutzutage beginnt hier das Abenteuer zu Land. Auch für die Via Algarviana ist das markante Kap bei Sagres Anfang oder Ende, zwischen denen 300 Kilometer Wanderweg liegen. Man kann ihn ganz oder in Etappen gehen. Auch der Wanderer begeht Neuland. Denn die Algarve kann auch anders als Strand und Felsenbuchten. Jenseits der Küste führt die Route durch das gebirgige Hinterland, Barrocal genannt, eine wilde Gegend, in der man sich ganz als Entdecker fühlen kann.
Die Luft ist noch frisch, die Morgenröte legt ein zartes Rouge auf die Sandsteinfelsen, das Kap wirkt verlassen. „Genügend Wasser dabei?“, erkundigt sich Nicolau da Costa in gutem Englisch. Die Dünenlandschaft ist trocken, und der Wanderführer legt ein forsches Tempo vor. Wohin man sieht, duckt sich die karge Vegetation unter dem rauen Seewind. Was für eine raue, verletzliche Landschaft.
Nach den ersten rot-weißen Holzschildern der Via Algarviana scheinen die Wegweiser versiegt zu sein wie die Bäche, die im Winter durchaus Wasser führen können. Doch Nicolau kennt die Gegend genau. Er ist an der Costa Vicentina geboren, jenem Naturpark, der von Sagres bis kurz vor Lissabon die schroffen Felsen, sandigen Buchten, Lagunen und Dünen der Westküste schützt. Bei Telheiro zeigt er geologische Strukturen, bei Vila do Bispo das große keltische Menhir-Feld oder besondere Pflanzen, wie Lackzistrosen, duftende Lavendelarten, die seltenen Hasenglöckchen, Blausterne und seltsame Distelfelder. Vereinzelt stehen verlassene Steinhäuser mit eingestürzten Dächern. Ein paar Ziegen grasen. Hunde dösen im Schatten, wo es noch Leben gibt. „Früher wuchsen hier Weizen und Gerste“, erinnert sich Nicolau, während er einen Esel tätschelt. Auch sie sind im Hinterland eine selten gewordene Spezies, wie die Menschen. Die meisten flohen vor dem harten Landleben in Städte wie Lagos und Albufeira oder gleich nach Lissabon.
Der nächste Tag führt ins Gebirge. Lúcio Feio, der Wanderführer dieser Etappe, wartet im Café am Ortseingang des Bergdorfes Monchique. In der Serra de Monchique schaltet die Natur von Steppengelb auf Baumgrün. Immer den weiß-roten Wegzeichen nach, folgt man Lúcio durch die Wälder aus Lorbeer, Pinien, Schirm- und Seekiefern, Stiel- und Korkeichen und Eukalyptus. „Ist es nicht paradiesisch?“, schwärmt er über die Vielfalt von Flora und Fauna, das Ergebnis zahlreicher Mikroklimata.
Für Alpinisten sind das vulkanische Bergmassiv und sein Gipfel Fóia mit 902 Metern Höhe ein Klacks, aber der ist die höchste Erhebung der Algarve. Oben erwartet den Naturfreund die Vorhölle. Denn der gelobte Gipfel entpuppt sich als niedergewalzte Fläche mit einem wie außerirdisch wirkenden Antennenwald, den Nato, Luftwaffe und ein Radiosender hier errichteten, und einem Monsterparkplatz für Touristenbusse. Sonst kann man wirklich schön weit sehen – zur Küste, zum Meer, sogar bis nach Afrika.
Von Alte nach Salir sind es 16 Kilometer. Alte ist dank seiner pittoresken Altstadt zu einer Art Pilgerstätte geworden. In der prächtigen Kirche aus dem 13. Jahrhundert wird sogar Eintritt verlangt. Wieder wandert man, wieder ist alles anders. Die Landschaft gibt sich jetzt typisch mediterran. Mandel-, Quitten-, Mispel- und Granatapfelbäume, Oliven- und Johannisbrotbäume wachsen hier. Die Via Algarviana verläuft auf alten Arbeitswegen, oft nicht breiter als ein Ochsenkarren. Trockensteinmauern begrenzen Felder und Wege, die Bäume spenden Schatten. Jedes größere Dorf besitzt eine öffentliche Waschstelle, jedes Haus einen schön verzierten Schornstein und kläffende Hunde. Alles kleine Wichtigtuer, die Hühner und schwarze Schweine beschützen. Die Alten auf den Bänken schauen die Wanderer erwartungsvoll an, grüßen freundlich und wünschen einen guten Weg.
Hat man das Kalksteingebirge Serra do Caldeirão passiert, ist Salir bald erreicht. Das verschlafene Bergdorf erlebte zur Maurenzeit große Tage, wovon ein kleines archäologisches Museum erzählt. Dafür wurde über den sorgfältig gepflegten Mauerstümpfen der alten Burg ein supermodernes Gebäude errichtet. Auf der Route von Barranco-Velho nach Cachopo gelangt man ins Zentrum der Korkindustrie. Von hier stammt der weltbeste Kork, aus São Brás de Alportel, wo ganze Wälder aus mächtigen, knorrigen Korkeichen stehen. „Früher war Kork ein Synonym für Reichtum“, sagt Sonia Manso, die Wanderführerin für die letzten Etappen. Doch seit viele Weinflaschen mit Plastik verkorkt werden, wird statt der Korkeiche vermehrt die Schirmpinie gepflanzt. „Das Gesicht der Gegend wird sich bald radikal verändern“, befürchtet die studierte Biologin.
Rast in Furnazinhas. Ein Dorf mit rund 50 Einwohnern, der jüngste ist 56 Jahre alt. Und doch ist es liebevoll gepflegt, die Fassaden frisch gemalt. Hühner laufen gackernd in den Gassen, Ziegen meckern. Am Abend sitzen die Alten vor den Türen und schälen Mandeln. „Wollt ihr welche?“, fragt Senhora Florinda. Aber gern – und schon gehört man irgendwie dazu. Bei Sonnenaufgang steht die noch rüstige Florinda schon wieder im Gemüsegarten. „Wollt ihr zum Essen kommen?“ Doch die lange Etappe nach Alcoutim steht noch bevor. „Kommen und gehen, so ist das Leben“, lächelt sie und reicht den Wanderinnen eine Handvoll Weintrauben für den Weg.
Vertrocknete Erde, offene Herzen. Begegnungen gehören auf dem Wanderweg zu den schönsten Abenteuern. Auf steinigen Sandwegen folgt man den rot-weißen Schildern und den Feldsteinmauern, vorbei an Feigenbäumen und halb verlassenen Dörfern. Endlich Corte Velha. Doch das einzige Café im Dorf ist geschlossen. Der „chefe“ der Taberna do Ti sieht die Wanderer und öffnet. „Wasser oder Café?“, fragt er auf Deutsch. Senhor Emídio genießt das Staunen und geht hinter den Tresen, den er mit Schirmmützen und alten europäischen Noten dekoriert hat, auch einem deutschen 20-Mark-Schein. Sein Café ist ein Zentrum für Soziales und Erste Hilfe. Erst neulich fuhr er eine verletzte Wanderin zum Arzt, jetzt rettet er vor dem Verdursten.
Alcoutim, das Ziel der Via Algarviana, ist erreicht. Träge zieht der Guadiana-Fluss vorüber, der Portugal nur 500 Meter von Spanien trennt. Die Burgen auf beiden Seiten erzählen von alten Feindseligkeiten. Heute kostet die Fähre nur einen Euro. Nach 300 Kilometern steht der Wanderer wieder am Wasser. Im Osten der Fluss, im Westen das Meer. Ende oder doch Anfang?