Als Designhauptstadt 2014 bietet Kapstadt auch schöne Kunst, Events und Ausstellungen. In Wirklichkeit geht es der südafrikanischen Metropole aber darum, sich komplett neu zu erschaffen.
Grant Jurius kann sehr schnell weg sein, wenn er muss. Er trägt kurze Hosen, Turnschuhe und seine Kappe tief im Gesicht. „Hit and run“ lautet sein Arbeitsmotto, denn auf offizielle Genehmigungen seitens der Stadt für seine Graffiti wartet er manchmal bis zu vier Wochen. Zu lang für einen Straßenkünstler, der jede Minute einen neuen Einfall hat. Der sein Viertel verschönern möchte, der Teil ist einer großen Bewegung, die im Stadtteil Woodstock in Gang gekommen ist. Der 29-Jährige führt uns durch die Straßen des ehemaligen Industrieviertels am Hafen. Lange war es leer und unbeliebt. Die viktorianischen Reihenhäuser verfielen. Die Fabrikhallen aus Backstein, die sofort an Brooklyn erinnern, warteten nach dem Ende der Textilindustrie auf eine neue Bestimmung. Ein paar Kreative kamen vorbei und entdeckten günstigen Mietraum für ihre Visionen. Erst waren es nur ein paar, dann immer mehr, und nach und nach füllten sich die Gebäude mit neuem Leben, verpassten der Hülle eine hippe Fülle.
Inzwischen hat Woodstock die höchste Konzentration an Galerien des Landes. Designer, Künstler, Musiker – der Name Woodstock passt endlich zum Viertel. Es ist trendy, angesagt und gönnt sich deshalb einen neuen Look. Grant zeigt uns die verschiedenen Graffiti an den Hauswänden. Wenn die Straße zur Galerie wird, hat jeder etwas davon, die Kunst wird leichter zugänglich. Auch deutsche Sprayer wie Urbanski und MadC haben sich hier verewigt; die weite Welt ist schnell vor Ort, wenn etwas Cooles entsteht. „Wir werden ein kleines Soho“, glaubt Grant. „Allerdings nicht so gemütlich. Woodstock heißt Leben an der Grenze.“ Es sind der Kontrast zwischen Arm und Reich, der Hype am Tag und die Gefahr in der Nacht, die das Viertel so spannend und anziehend machen. Hipster mit iPads und eigener Modekollektion leben hier genauso wie Drogensüchtige und Obdachlose. Noch. Grant muss Ende des Monats ausziehen, sein Apartment wird renoviert und dann teurer wieder vermietet. Die Gentrifizierung macht auch vor Rebellen keinen Halt.
Die Verantwortlichen verstehen Design als Motor für sozialen und ökonomischen Wandel
Dennoch: Woodstock ist das inoffizielle Vorzeigeprojekt Kapstadts, das sich 2014 „Weltdesignhauptstadt“ nennen darf. Der Titel wird alle zwei Jahre von der in Kanada ansässigen International Society of Industrial Design verliehen; zuletzt gewannen Helsinki, Turin und Seoul. Kapstadt dehnt den Design-Begriff deutlich weiter aus als seine Vorgänger: Lebe Design. Verändere das Leben. Der Slogan ist ein Versprechen, dass der Titel und die damit verbundenen 450 Projekte und Events nicht nur die Stadt, sondern das Leben an sich verbessern werden. Die Verantwortlichen verstehen Design als Motor für sozialen und ökonomischen Wandel. Sie wollen nicht nur hübschere Gebäude, sondern auch mehr öffentliche Verkehrsmittel, einen Ausbau der Radwege, eine Brücke zwischen weißen und schwarzen Stadtvierteln schlagen, Strukturen schaffen, die auch im Geist verbinden.
Der World-Design-Capital-Kurator Paul Duncan möchte auf den positiven Stadtentwicklungsprozessen aufbauen, die die Fußball-WM gebracht hat. „Wieder ist ein Fokus auf uns gerichtet, wieder eine Chance, unsere Umgebung besser zu machen.“ Geld bringt der Titel nicht, nur Aufmerksamkeit und damit mehr Touristen. Klar könnten diese sich die romantische Seite Kapstadts anschauen, sagt der 53-jährige Duncan. Den Tafelberg, die Victoria & Alfred Waterfront mit dem Riesenrad, die Company Gardens, die Weinberge. Aber es gibt eben auch die andere Seite: die Townships, eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent, die Kriminalität, die Verkehrsstaus durch 350.000 Pendler täglich, die Alkohol- und Crystal-Meth-Probleme. „Ich will nicht wie Mutter Teresa klingen, aber den Leuten müssen die Augen geöffnet werden“, sagt Duncan. Hochgesteckte Ziele brauchen Raum, um sich entfalten zu können, und in diesem Fall stehen eine ganze Stadt und ein ganzes Jahr zur Verfügung.
Alles Abgefahrene gibt es in diesem Komplex an der Albert Road
Auch wenn Südafrikas zweitgrößte Metropole nicht so wirkt: Sie ist im schlechtesten Sinne eine der designtesten der Welt: Während der Apartheid hatten alle Baumaßnahmen das Ziel, Schwarze und Weiße voneinander zu separieren. Jetzt sollen diese Trennungen rückgängig gemacht werden. In Woodstock scheint das zu funktionieren. Weiße hätte sich bis vor Kurzem selten in diese raue Umgebung verirrt. Sie stehen vor allem auf zwei Dinge: auf den Neighbourgoods Market und das Woodstock Exchange, ein dreistöckiges Zentrum für Start-ups, Werbeagenturen und Design-Geschäfte. Von abgefahrenen Möbeln über Babyklamotten bis zu seltener Schokolade gibt es in diesem Komplex an der Albert Road alles, was in irgendeiner Form innovativ gedacht oder gestaltet wurde. Sogar die Cafés servieren nicht einfach nur Kaffee. In The Field Office sitzt man auf den Möbelentwürfen der Inhaber, die vor Ort zu kaufen sind. Bei Superette bekommt jeder Besucher mittags ein gutes Gewissen serviert: „Wenn du an deinem Arbeitsplatz isst, sammelt dein Keyboard 400 Kalorien Essensreste“ steht an einer Fensterscheibe. Auch die Spitzengastronomie hat ihre Gasherde inzwischen in Woodstock aufgestellt: The Pot Luck Club freut sich über lange Wartelisten und garantiert hoch in einem Glaskasten auf einem ehemaligen Silo eine tolle Aussicht.
Der Neighbourgoods Market findet sonnabends von 9 bis 14 Uhr rund um die Old Biscuit Mill statt. Die alte Keksfabrik hat sich als Zuhause zahlreicher Nachwuchsdesigner weit über Kapstadts Grenzen hinaus einen Namen gemacht. Am Markttag verkaufen viele Talente ihre selbst gemachten Brillen, Taschen, Keramiken oder Ketten. Wer aus Heimarbeit ein Business machen will, ist hier richtig. Jeder Zweite der bis zu 6000 Besucher trägt ein Glas Wein, einen Cocktail oder einen Smoothie spazieren. Es gibt Sushi, Trüffel, belgische Waffeln und 20 verschiedene Pesto-Sorten. An langen Tischen oder direkt auf dem Boden sitzend kommen die Leute miteinander ins Gespräch und ins Feiern – ein Festival des Hedonismus im afrikanischen Woodstock. Und mittendrin die Deutschen. Es scheint, als zöge sie der Charme des Aufbruchs wie magisch an. Innerhalb von fünf Minuten trifft man so auf drei Jungs aus Berlin, die Geburtstag feiern, einen Baumschulenbesitzer aus Norddeutschland, der ein Kunstwerk kauft, und Leonie Gerber aus Hamburg, die Secondhand-Klamotten sucht. Die Stylistin und Art-Direktorin fliegt seit sechs Jahren jeden Winter nach Südafrika, um dort zu arbeiten. Modeshootings, TV-Spots, Filme oder deutsche Shows wie „Der Bachelor“ und „Sing meinen Song“ werden hier produziert.
Um hier dazuzugehören, reichen Flip-Flops und ein strahlendes Lächeln
Es sind die vielfältigen Locations, die Produktionsfirmen anziehen – und das Licht. Am Morgen wundervoll diffus, abends weich und lieblich. Kein Smog verschleiert den Blick, denn der starke Südostwind, von den Einheimischen „Cape-Doctor“ genannt, weht alle Abgase aufs Meer hinaus. Außerdem sieht man immer den ganzen Himmel und nicht nur Bruchstücke wie in New York oder Hongkong, weil es kaum Hochhäuser gibt. „Ich denke immer, dass ich mich in einer Kulisse befinde“, sagt Leonie Gerber. „Die Wolken, die wie Wattebäusche über den Tafelberg ziehen, wirken doch irgendwie irreal.“ In Woodstock stöbert sie im vielfältigen Kleiderfundus und in Möbelläden. Ihr gefallen die Inspiration, die überall zu spüren ist, und die Entspanntheit der Kapstädter. Durch den günstigen Wechselkurs leben Europäer auch gerade recht günstig in Afrika, so kann sich die 29-Jährige sogar ein Zimmer in Camps Bay leisten, dem Nizza von Kapstadt.
Das Viertel am Fuße der Bergkette Zwölf Apostel wirkt wie aus einer französischen Urlaubsreklame gefallen. Das Meer herrlich türkis, gut aussehende Menschen spielen Beachvolleyball oder lassen sich für ein paar Rand massieren. Cabrios fahren über die Uferstraße, die Victoria Road, an der sich ein Café ans nächste reiht. Besonders gut gelingt das Sehen und Gesehenwerden im Senzero, im Blues, im neuen Restaurant Umi und im Promi-Hotspot Café Caprice. Wer hier dazugehören möchte, braucht übrigens keine neue Garderobe. Es reichen Flip-Flops und ein strahlendes Lächeln. „Die Menschen sind weniger gestresst durch das entspannte Lebensgefühl“, sagt Leonie Gerber. Vielleicht kommen sie so leichter auf neue Ideen.
Die Realisation eines derart teuren, gigantischen Projekts in Afrika grenzt an ein Wunder
Eine der besten, die das Stadtbild Kapstadts und seine Kunstszene nachhaltig beeinflussen werden, hatte ein Deutscher. Jochen Zeitz, ehemaliger Geschäftsführer von Puma, wird Ende 2016 das erste große Museum für zeitgenössische Kunst in Afrika, genannt Zeitz MOCAA, eröffnen. In einem Pavillon in der Nähe der Baustelle an der Waterfront bekommt man schon jetzt eine Ahnung von dem spektakulären Bau, der von dem bekannten britischen Architekten Thomas Heatherwick umgesetzt wird. Neun Stockwerke, 80 Galerien, ein Dachterrassen-Skulptur-Garten, und das alles in 42 senkrechten Betonröhren, da das Museum in einem stillgelegten Getreidespeicher errichtet wird.
Für Kunstfans grenzt die Realisation eines derart teuren, gigantischen Projekts in Afrika an ein Wunder. Vielleicht kein Zufall, dass man beim Blick auf die Pläne eine Kathedrale zu erkennen meint. Die Sagrada Família, eingebaut in ein Silo, das Besuchern von jedem Punkt zwei spektakuläre Aussichten verspricht – entweder auf das Meer oder auf den Tafelberg. Nur Gott weiß, was die Leute mehr faszinieren wird: Zeitz’ Sammlung afrikanischer Kunst oder ihr außergewöhnliches Zuhause.
Eine Nummer kleiner, dafür aber mit direktem Nutzen für die Bewohner der Townships, ist das Maboneng Township Arts Experience, ausgedacht vom Rapper und Künstler Siphiwe Ngwenya. Er kennt sich aus mit Vibes und weiß Bescheid über die dunkle Seite des Lebens. Aufgewachsen in einem Armenviertel in Johannesburg, das alle wegen der fehlenden Elektrizität „Darkcity“ schimpften, benannte er sein Projekt nach dem für ihn Kostbarsten: Maboneng bedeutet Licht.
Gute Kunst ist nicht, wenn etwas gut aussieht, sondern wenn sie etwas mit den Leuten anstellt
Seine Idee ist so simpel wie erfolgreich: Häuser in Townships zu Galerien umzuwandeln, um Touristen anzuziehen. Ngwenya überzeugte große Galerien, ihre Schätze in die No-go-Areas zu verleihen, und organisierte Touren durch die Häuser. 100 Rand kostet der Eintritt in diesen Clash der Kulturen: Touristen übertreten die Schwelle zu den Ärmsten der Armen, die unter ihrem Dach teure Kunst beherbergen. Wer sein Heim zur Verfügung stellt, wird an den Einnahmen beteiligt. Kauft ein Besucher ein Bild, gehen 70 Prozent an den Künstler, 15 Prozent an den Hauseigentümer und 15 Prozent an Ngwenyas Organisation. „Ein paar bunte Wände reichen den Bewohnern der Townships nicht, sie brauchen Geld,“ sagt der 30-Jährige, der demnächst Vater von Zwillingen wird und vielleicht auch deshalb letztens mal wieder einen Bus organisierte, um 60 Kinder aus den Townships an den Strand zu fahren. Sie hatten ihn noch nie gesehen, obwohl das Meer nur ein paar Minuten von ihnen entfernt liegt. Aber eben in einem Weißenviertel. „Wir müssen die Grenzen übertreten, die in den Köpfen weiter existieren“, sagt Ngwenya.
Sein Projekt könnte das schaffen, was man Design kaum zuzutrauen mag: Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, die sonst eher wenig voneinander wissen wollen. Gute Kunst ist nicht, wenn etwas gut aussieht, sondern wenn sie etwas mit den Leuten anstellt. Der Titel „Designhauptstadt“ wirkt für Kapstadt, als würde ein Tropfen Rot in einen Eimer Grau fallen und so ein schönes Rosa zaubern. Nur: Jetzt gerade befindet sich der Tropfen noch im Fallen.