Die Metropole feiert sich ab jetzt ein Jahr lang als Kulturhauptstadt Europas. Es ist eine faszinierende Stadt voller lettischer Lebenskraft und Leidenschaft. Ein Rundgang.
Die Trambahnlinie 3 fährt nicht direkt ins Reich der Fantasie. Man steigt am Kunstmuseum aus, läuft 100 Schritte die breite Straße Elizabetes iela nach Westen, biegt erst in die Antonjas iela ein, dann in die Alberta. Und schon sind die Löwen los, reißen Drachen ihr Maul auf, starren Fratzen und Fabelwesen von den Fassaden der Häuser, umrahmt von floralen Steingirlanden. Die Balkone werden gestützt von schönen, barbusigen Frauen und grimmigen, bärtigen Männern: Jugendstil vom Feinsten, so üppig wie nirgendwo sonst auf der Welt.
Eine Momentaufnahme aus einer faszinierenden Stadt, ein Höhepunkt von vielen. Vom Viertel der „blühenden“ Häuser nehme ich sie mit in die Altstadt, zu den Erinnerungen an die Hanse, an den Deutschen Orden und an die Jahrzehnte des Schreckens im vergangenen Jahrhundert. Von den Geheimnissen der alten Gassen will ich erzählen – warum sitzt da eine schwarze Katze auf dem Dach – und vom Charme des Livenplatzes, des schönsten Treffpunkts in der lettischen Metropole. Und natürlich gehört das Getümmel der Markthallen, wo Hanfbutter, geräucherter Käse und getrockneter Fisch die Renner sind, zu jedem Riga-Besuch.
Also von vorne: Kaum gelandet, treffe ich Parsla Rieksta-Riekstina im Restaurant 13 Stühle, direkt hinter dem Dom. Es ist ein dunkles, sehr rustikales Lokal; die Soljanka dort, eine russische Suppe, die auch die Letten mögen, wärmt Leib und Magen; mit einem Kräuterschnaps namens Balsam, nie zuvor davon gehört, stimmt Parsla mich auf den Spirit der Stadt ein. Sie ist pensionierte Lehrerin und passionierte Riga-Liebhaberin. Deswegen fällt es ihr leicht, sich jetzt ein Zubrot als Reiseleiterin zu verdienen.
Wo fangen wir an, Parsla? Riga hat immerhin um die 700.000 Einwohner und unzählige Sehenswürdigkeiten beiderseits der Daugava, die auch einmal Düna hieß. Wir werden uns, sagt Parsla, einen ersten Überblick verschaffen – von der Aussichtsplattform der Petrikirche, deren Turm an die Hamburger Hauptkirche St.Katharinen erinnert. Es ist ein frostiger Wintertag und die Sicht aus 72 Meter Höhe ungetrübt: fast lotrecht unter uns die Altstadt, die von hier oben noch kuscheliger aussieht, daneben der Rathausplatz mit dem wieder aufgebauten Schwarzhäupterhaus aus der Hansezeit, etwas weiter weg, am Fluss, die welligen Dächer des Zentralmarktes, in der Ferne, tatsächlich, glitzert das Meer, die Rigaer Bucht.
Stadtbummel mit Parsla, das heißt Eintauchen in eine Stadt, die über Jahrhunderte mit Stolz zu Europa gehörte, deren deutsche, russische und jüdische Spuren so unübersehbar sind wie jetzt wieder ihre lettische Lebenskraft und Leidenschaft. Parsla, verschmitzt wie viele ihrer Landsleute, steckt auch voller Anekdoten. Frau Nuss-Nüsslein, so die Übersetzung ihres Nachnamens, erzählt Hamburgern gern, warum sich die Sopranistin Inga Kalna, Star der Rigaer Oper und anderer großer Musikhäuser, an der Elbe so wohlgefühlt hat (weil sich die Künstlerin bei uns, wie man auch auf ihrer Homepage nachlesen kann, vielerorts an Riga erinnert fühlt hat: Backstein, viel Wasser, offene Menschen...). Bremer hingegen führt Parsla schnurstracks vom Rigaer Roland am Rathaus zu den Stadtmusikanten, die von der Partnerstadt an der Weser gestiftet wurden und neben der Petrikirche ihr stummes Konzert geben.
Die Wappen von Riga, Hamburg, Lübeck und Bremen zieren den Giebel des Schwarzhäupterhauses, des wohl meistfotografierten Gebäudes der Stadt. Über Jahrhunderte tafelten an dieser Stelle nur junge, unverheiratete Hanse-Kaufleute. Das gotische Juwel wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört und 2001, zur 800-Jahr-Feier der lettischen Hauptstadt, originalgetreu rekonstruiert. Auch das Rathaus, direkt gegenüber, wurde wieder aufgebaut. Wie dicht Macht und Ohnmacht in dieser Stadt zu allen Zeiten nebeneinanderlagen, zeigt das Okkupations-Museum am rechten Rand des großen Platzes, ein düsteres Gebäude, Schwarzer Sarg genannt, das an die deutsche und die sowjetische Besatzung gemahnt.
Von hier oder vom Domplatz aus lässt sich gut ins Gewirr der Altstadtgassen eintauchen, aber nicht, ohne zuvor einen Blick auf das Herder-Denkmal zu werfen. Der Dichter Johann Gottfried Herder wirkte im 18. Jahrhundert fünf Jahre als Lehrer an der Domschule, „so frei, so ungebunden...“, wie er sich später erinnerte. Das konnte Richard Wagner nicht sagen, der knapp 100 Jahre später, von 1837 bis 1839, als Kapellmeister in Riga engagiert war, immer in Furcht vor seinen Gläubigern.
Der Wagner-Konzertsaal im ehemaligen Deutschen Stadttheater, Riharda Vagnera iela 4, ist heute Pilgerstätte vor allem für deutsche Touristen. Und nun erweisen auch die Rigaer dem umstrittenen Meister, den sie seinerzeit nicht besonders mochten, die Reverenz: Mit einer Neuinszenierung der Oper „Rienzi“, die Wagner einst vor Ort komponierte, eröffnet die lettische Metropole am 17. Januar in der prächtigen Nationaloper ihr Jahr als Kulturhauptstadt Europas.
Die enge Wagnerstraße führt zum weiträumigen Livenplatz, für mich der abwechslungsreichste. Er ist gesäumt von gemütlichen Cafés und Kneipen, vom alten Russischen Theater und von zwei historisch bedeutsamen Gildehäusern. Und damit sind wir bei der Katze auf dem Dach angekommen: Auf einem Bürgerhaus gegenüber schaut sie neidisch zum Haus der Großen Gilde. Ursprünglich, vor etwas über 100 Jahren, hat sie den hohen Herren, die dem neureichen Erbauer des Katzenhauses die Mitgliedschaft verweigerten, den Hintern zugedreht. Der Affront hielt nicht lange an, die Katze musste die Richtung ändern.
Ein scharfer Ostwind treibt uns durch die Marija iela und geradewegs in Emihl Gustavs Chocolateria, ein nostalgisch-gemütliches Kaffeehaus im Wiener Stil. Weiter durch die Grünanlagen am Stadtkanal, vorbei am Freiheitsdenkmal aus den 30er-Jahren, das – erstaunlich genug – den Nazi-Terror und die Herrschaft der Sowjets überstanden hat. Danach, im Herzen der Neustadt, breite Boulevards, die goldene Kuppel der russisch-orthodoxen Kathedrale, der Wöhrmannsche Garten. Riga hat weitaus mehr Gesichter, als man sich in drei Tagen an der Daugava zumuten möchte.
Frau Nuss-Nüsslein, was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht mit Gästen in Rigas unterwegs sind? „Nu, was werde ich machen, die Enkel hüten und singen gehen“, sagt Parsla Rieksta-Riekstina, dreimal die Woche in drei verschiedenen Chören. „Wir Letten“, betont sie, „wir singen zu jeder Tages- und Jahreszeit. Und wenn es notwendig wird, ersingen wir uns auch die Freiheit, Sie wissen schon, die Singende Revolution Ende der 1980er-, Anfang der 90er-Jahre, mit der wir und die anderen baltischen Länder uns die Unabhängigkeit aus vollen Kehlen erstritten haben.“
In Hamburg kennt und schätzt man solche Töne. Seit Jahren holt Sabine Sommerkamp-Homann, die aktive Honorarkonsulin Lettlands, fröhliche Mädchenchöre und die renommierten Latvian Voices aus der einen in die andere Hansestadt. Jedes Mal kommt sie beschwingt aus Riga zurück: „Unglaublich, wie viel Musik in dieser Stadt steckt!“ Natürlich wird sie im laufenden Jahr dafür sorgen, dass die Kulturhauptstadt auch an der Elbe nicht zu überhören ist.
Das Unglück, als ein Supermarktdach vor einigen Wochen 45 Menschen erschlug, hat die Rigaer schwer getroffen. Nach dem Schock und den Tagen der Trauer kann und will man wieder nach vorn schauen. Auch die Vorfreude auf das große Jubiläum lenkt von der Katastrophe ab. Singen befreit, wie die jüngste Geschichte Lettlands gezeigt hat. Es ist schlicht Balsam für die Seele und allemal nachhaltiger als der gleichnamige Kräuterschnaps.