Kunst und Käse, ein gerupfter Adler und ein wunderschönes Altstadt-Labyrinth: Herbstliche Zeitreise in eine Stadt wie aus dem Bilderbuch.
Eine Stadt wie aus dem Bilderbuch. Oder auch wie aus einem Lehrbuch über die Anfänge des deutschen Reichs: märchenhaft, sagenhaft, spannend und amüsant. Deswegen muss es in dieser Geschichte auch von legendären Kaisern und weltberühmten Künstlern wimmeln. Eine freche Magd und ein kreativer Wirt müssen vorkommen, Bergleute aus alter Zeit, die noch immer alle vier Stunden hoch über dem Marktplatz ihre Runden drehen. Und obendrein eine Hamburg-Münchner Griechin, die ihr Herz im Harz gleich zweimal verloren hat.
Goslars Größe hat um das Jahr 1005, als im nahen Rammelsberg Silber und Erz gefunden wurden, mit Heinrich II. begonnen. Er ließ hier eine Pfalz bauen, einen Burgpalast für Könige und Kaiser, die im Mittelalter durch "Deutschland" zogen und mal hier, mal dort Hof hielten. Nacheinander waren es drei Kaiser, die alle Heinrich hießen und von Goslar aus für knapp zwei Jahrhunderte den Ruhm und die Macht des Reiches mehrten.
Fast 1000 Jahre später begann mit einem Heinrich aus England, dem großen Bildhauer Henry Moore, der Aufstieg der kleinen Provinzstadt zu einer Kunstenklave von überregionaler Bedeutung. Engagierte Bürger stifteten einen sogenannten Kaiserring, eine Auszeichnung für Künstler von Weltrang, die erstmals 1975 verliehen wurde. Mit Henry Moore, damals der Lieblingsbildhauer von Kanzler Helmut Schmidt, hatten die Goslarer eine Messlatte gesetzt, die sie seither nie unterschritten haben. So tragen zum Beispiel Max Ernst, Josef Beuys, Georg Baselitz und Gerhard Richter das Schmuckstück, das ein Worpsweder Goldschmied entworfen hat.
Vor ein paar Wochen hat ihn John Baldessari, zurzeit wohl der bedeutendste Konzeptkünstler Amerikas, übergestreift. Eine Werkschau von ihm ist noch bis Ende Januar im Mönchehaus zu sehen, Goslars Museum für moderne Kunst. Direktorin Bettina Ruhrberg, seit sechs Jahren an der Spitze des renommierten Hauses, kann stolz darauf verweisen, dass die 40 000-Einwohner-Stadt mit ihren Kaiserring-Künstlern und dem Mönchehaus in der ersten Liga der deutschen Museen für moderne Kunst ganz oben mitspielt.
Verliehen wird der Ring alljährlich im ehemaligen Amtsgericht am historischen Markt, schieferverkleidet wie so viele Gebäude in Goslar. Aus einer Klappe im Giebel dieses Kaiserring-Hauses laufen viermal am Tag Bergleute im Kreis herum. Zu den Glockenklängen des Steigerlieds erinnern sie an die Quelle des Aufstiegs dieser Stadt, die Schätze, die sie über 1000 Jahre lang aus dem Rammelsberg geholt haben. Erst 1988 war Schicht im Schacht, und aus der Grube wurde ein technisches Museum.
Für Döntjes um den Dukatenscheißer gibt es ein halbes Dutzend Versionen
Der Markt im Zentrum der Altstadt, überragt vom Doppelturm der St.-Cosmas-und-St.-Damian-Kirche, ist Treffpunkt der Goslarer und ihrer Gäste aus aller Welt. Die scharen sich um ihre Stadtführer und lassen sich reichlich Fakten und Döntjes erzählen, die sich eher überschneiden als ergänzen. Allein für den holzgeschnitzten Dukatenscheißer am Kaiserworth-Haus haben sie ein halbes Dutzend Versionen parat, die alle stimmig klingen. Nur der goldene Reichsadler auf dem Brunnen gibt derzeit Rätsel auf. Denn ihm fehlt mal wieder die Schwanzfeder ... Studentenulk, Metallräuber? Keiner weiß es wirklich. So wie die Anekdote vom Dukatenmännchen wird auch die Story von der Butterhanne nur zu gern ausgeschmückt: die derbe Figur einer Magd, die an der Fassade des "Brusttuchs", eines alten Patrizierhauses, ihr Hinterteil zeigt. Ein Gast im gleichnamigen Hotel hat die hintergründige Szene freilich schon vor über 100 Jahren auf den Punkt gebracht: "Mit der linken Hand da buttert sie, die rechte am Gesäße, so macht man hierzuland' den guten Harzer Käse."
Der stinkt auch heute noch, aber hygienisch wie biologisch ganz korrekt. Und neuerdings wird sogar das traditionsreiche Gose-Bier, benannt nach dem Fluss, der einst der Stadt zum Namen verholfen hat, wieder im Herzen dieser Stadt gebraut. Odin Paul, gelernter und studierter Braumeister, hat in der Stadt, in der früher über 100 Brauereien konkurrierten, wieder einen Sudkessel aufgestellt. Mit dem obergärigen Getränk, nach eigenem Rezept versetzt mit Salz und Koriander, lassen sich in seinem Brauhaus und in anderen Lokalen die deftigen Spezialitäten der Region gut herunterspülen.
Ziegenkäse gehört dazu, der Harzer Stinker natürlich, erst recht Knieste, die halbierte Ofenkartoffel, gefüllt mit Kräuterschmand, und Hackus, einem würzigen Schinkenmett. Etwas anspruchsvoller sind Gerichte mit Forellen aus den Oberharzer Teichen und mit Fleisch vom Roten Höhenvieh, das früher von den kleinen Leuten als vielfach nützliches Tier gehalten und heute von Feinschmeckern geschätzt wird.
Wie Odins Mini-Brauerei am Marktkirchhof, ein Haus aus dem Jahre 1720, hat auch der gedrungene Fachwerkbau Abzuchtstraße 4, neben dem Goslar- und dem Zinnfiguren-Museum, ein paar Hundert Jahre auf dem Buckel. Im Sommer 1973 eröffnete dort Gudrun Tiedt ihre "Stuben-Galerie", die schon bald Ansehen in ganz Deutschland genießen sollte. Heute hat Tochter Antje Stoetzl-Tiedt, studierte Betriebswirtin, aber mit dem Herzen schon früh bei Kunst und Literatur, kein Problem, Größen wie derzeit Armin Mueller-Stahl (noch bis 18. November) zu präsentieren.
An die Museumsmeile schließt sich, bis über den Markt hinaus, ein Gassenlabyrinth an, durch das man bummeln und in dem man auf Überraschungen gefasst sein sollte. Am prächtigen Haus der Bäckergilde, 1577, mag es "nur" ein Wappen sein, das Lebkuchen, Brezel und das Dreitimpenbrot zeigt. Timpen waren Brot-"Zipfel", die von den Bergleuten im Mittelalter mit Pflaumenmus, Käse und Mett bestrichen wurden. Im Großen Heiligen Kreuz, einem ehemaligen Spital, älter als das von Lübeck, stoßen winzige Butzen, in denen Kunsthandwerk verkauft wird, auf Erstaunen. In der Schreiberstraße wird womöglich verblüfft zur Kenntnis genommen, dass dieser stattliche Barockbau die Keimzelle eines Weltkonzerns ist: seit 1693 im Besitz der Familie Siemens. Neben der Pfalz, in der Kapelle St. Ulrich, liegt in einem Sarkophag das Herz Heinrichs III., der die Stadt geliebt haben soll wie kein anderer seiner kaiserlichen Namensvettern. Und noch immer lassen, sprichwörtlich verstanden, viele Menschen ihr Herz in Goslar. Zum Beispiel Helena Galanakis, quicklebendige Marketingfrau, die das Städtchen mit südländischem Temperament "verkauft". Die gebürtige Münchnerin mit griechischen Wurzeln war 2006 "nach sechs tollen Jahren" von Hamburg hierhergezogen, aus Liebe zu ihrem Freund, bald auch aus Liebe zu Goslar: "So viel Kunst in so schönen Häusern, so viele gute Typen und fast so viele urige Kneipen wie rund um den Großneumarkt ... den ich manchmal allerdings doch etwas vermisse."