Felsige Natur: Viele Urlauber kommen zum Wandern. Die Vulkaninsel bietet Abgeschiedenheit und eine faszinierende Landschaft - großer Rummel findet hier nicht statt.

Die zweimotorige Propellermaschine hält sich wacker zwischen grauen Wolken und Meer. Gerade hat sie den Pico de Teide passiert. Die Spitze von Teneriffas höchstem Berg steckt in einer weißen Wolkenmütze. Der Himmel wird noch etwas grauer. Das Flugzeug mit seinen 15 Passagieren brummt an einer düsteren Felsenküste entlang. Wir sind im Anflug auf El Hierro. Der erste Eindruck von der kleinsten der Kanarischen Inseln ist nicht unbedingt freundlich. Immerhin: Auf der Fahrt vom Mini-Flughafen Cangrejos zum Parador-Hotel, das einsam an der Küste liegt, heben sich wenigstens die unzähligen weißen Heidekrautbüsche, die die steilen Berghänge besprenkeln, vom dunklen Hintergrund ab. Doch dann am nächsten Morgen: Die Felsen leuchten rotgolden vor strahlend blauem Himmel, die Brandung schäumt wuchtig direkt unter der Terrasse gegen die Mauern, die Insel lockt zum Erkunden.

Noch schneller als Tag und Nacht wechselt hier das Klima: In den Bergen hängen die Wolken, an der Küste strahlt gleichzeitig die Sonne. Im Nebel fährt man in den 2,7 Kilometer langen Tunnel auf der neuen Straße von der Westküste zur Hauptstadt Valverde im Norden, kaum taucht man wieder ans Tageslicht, hat man freie Sicht bis zum weit entfernten Meer. Valverde nämlich ist die einzige Hauptstadt der Kanaren, die nicht direkt am Meer liegt. In 600 Meter Höhe schmiegt sie sich an einen Berghang. Sie als Hauptstadt zu bezeichnen, grenzt allerdings fast schon an Hochstapelei. Zwei größere Straßen gibt es, daneben viele enge und steile Gassen mit Hinterhöfen und Gärten inklusive Hühnern und Ziegen, üppige Bougainvilleen wuchern an den Mauern. Vor der Kirche Santa Maria de la Concepción gaukelt ein großzügiger Treppenvorplatz städtisches Flair vor. Doch hohe Häuser oder gar Verkehrsampeln gibt es nicht. Und das macht den Charme der ganzen Insel aus: Hier scheint die Zeit noch ein bißchen stehengeblieben zu sein. Hektik, Streß und Massentourismus - was ist das?

Den Eindruck von entspannter Gemächlichkeit verstärkt der deutsche Reiseleiter. Die Späthippies aus den 80er Jahren sind angeblich auf der Nachbarinsel La Gomera hängengeblieben. Gerd (Markenzeichen: Batik-T-Shirt, bunte Schirmmütze) indes hat sich vor 21 Jahren für El Hierro entschieden, nachdem er zwei Jahre lang mit seiner Frau im Senegal selbstgefertigte afrikanische Ketten verkauft hatte. Ein Aussteiger, Minifarmer, Vater von vier Töchtern, Maler, Wanderführer, der mit freundlicher Gelassenheit den Touristen "seine" Insel nahebringt. Er verliert sein sanftes Lächeln auch nicht bei einer gravierenden Verspätung im engen Zeitplan. Und so warten wir geduldig, bis sich die Pforten zum Museumsdorf Guinea öffnen.

Das Dorf liegt in der Bucht El Golfo, die sich weit an der westlichen Küste entlang streckt. Es ist das älteste Freilichtmuseum Spaniens und zeigt in den restaurierten, gedrungenen Häusern aus dem 17. Jahrhundert, wie die Bevölkerung in den vergangenen vier Jahrhunderten lebte. Dem Museum angeschlossen ist eine Aufzuchtstation für die vom Aussterben bedrohten Rieseneidechsen, die es nur auf dieser Insel gibt. In den bis zu 1000 Meter hohen Felswänden, die das Tal von El Golfo begrenzen, hat man eine letzte Population dieser Fossile aus der Urzeit entdeckt, die unter strengem Naturschutz stehen.

Naturschutz wird großgeschrieben auf El Hierro, das von der Unesco zum Biosphärenreservat erklärt wurde. Erfolgreich wehrten sich die Einwohner gegen eine geplante Satellitenabschußbasis und gegen eine militärische Radaranlage. Bislang blieben sie auch noch von den Schüben von Tagestouristen verschont, die mit der Schnellfähre von Teneriffa bereits nach La Gomera geschwemmt werden und deren große Reisebusse sich durch die engen Serpentinen im Gebirge quälen. Wer nach El Hierro kommt, schätzt die Abgeschiedenheit und manchmal auch die Einsamkeit. Große Hotels gibt es kaum - der "Parador National" an der Ostküste ist mit 46 Zimmern das größte, das Hotel "Punta Grande" auf einer alten Hafenmole im Golfo mit vier Zimmern das kleinste, laut Guinness Buch sogar das kleinste der Welt. In den beschaulichen Orten stehen Appartements und Pensionen zur Verfügung. Im Landesinneren der nur 278 Quadratkilometer großen Insel liegen vereinzelte Ferienhäuser, umgeben von Feld, Wald und Wiesen und sonst nichts.

Die schwarzen Badestrände der Vulkaninsel, auf der es allerdings seit 200 Jahren keinen Ausbruch mehr gegeben hat, sind klein und rar. Die Küste besteht zum größten Teil aus schroff zum Meer abfallenden Felsen. Die Bucht von El Golfo ist die Ausnahme: An dieser Stelle soll vor Urzeiten ein großer Teil der Insel ins Meer abgebrochen sein. Heute ist das Tal ein fruchtbares Obstanbaugebiet. Hier laden sogar natürliche Wasserbecken, die durch Felskanten vom Meer abgetrennt sind, zum Baden ein. Zum Touristenzentrum hat sich der Fischerort Restinga an der Südspitze der Insel entwickelt. Taucher finden dort ein ausgedehntes Unterwasserrevier. Der Ort selbst allerdings fällt mit trostloser Kaimauer und tristen Betonbauten nicht gerade durch architektonische Glanzleistungen auf. Dafür aber bietet er mit Bars und Fischrestaurants immerhin so etwas wie buntes Strandpromenaden- und Nachtleben.

Die meisten Urlauber aber kommen zum Wandern hierher. Auf sie wartet eine faszinierende Landschaftsvielfalt. Auf weiten Feldern formiert sich im Süden die sogenannte Stricklava, die einst in dicken Strängen erkaltete, zu erstaunlichen geometrischen Mustern. Zwischen den Ritzen des schwarzen Gesteins drängen sich die lachsrosa Blüten der Aeonien ans Licht, die aussehen wie hingestreute fleischige Rosen. Im Sabinawald im Westen verblüffen die durch Wind und Wetter zu bizarren Gebilden verformten uralten Wacholderbäume. In den waldigen Höhen des Landesinneren wechselt der hohe Pinienwald mit dem urtümlichen Lorbeerwald, der mit seinen grün bemoosten Baumstämmen, den filigranzarten Flechten an den Zweigen der Baumheide, den hohen Farnen an verwunschene Feenreiche denken läßt. Oft hängen hier die Wolken fest, und naß tröpfelt es von den Blättern. Wolkenmelker nennen die Herreños die Bäume, die für einen Teil des kostbaren Wassers auf der Insel sorgen.

Ein Wunder wird auf El Hierro noch immer gefeiert: Nach einer Dürrekatastrophe im Jahr 1741 trugen Hirten die Statue der Santa Maria de los Reyes von ihrer Kapelle in La Dehesa in einer langen Prozession bis nach Valverde - und tatsächlich begann es daraufhin zu regnen. Seitdem wird die Prozession alle vier Jahre wiederholt. Dann allerdings ist es mit der Abgeschiedenheit vorbei. Bis zu 25 000 Menschen versammeln sich zu dem Ereignis auf dem Eiland, das selbst nur rund 9000 Einwohner hat, und begleiten die Jungfrau von der Wallfahrtskapelle auf dem 42 Kilometer langen Pilgerpfad mit Gesang und Tanz bis zur Hauptstadt. Wer dabei sein möchte: Die nächste Prozession ist im Jahr 2009. Wer aber die ländliche Geruhsamkeit sucht und sich vom Märchenwald verzaubern lassen möchte, der ist jederzeit willkommen.