Nirgendwo ist man dem Flamenco näher als in der Altstadt von Madrid. Abends füllen sich Plätze und Lokale - so wird jede Nacht wie Silvester gefeiert.
Nachmittags in der Casa Patas, einer Art Kathedrale des Flamenco: Es sind die trägen Stunden zwischen dem Mittagessen und dem Abend, wenn frühestens gegen halb zehn die große Stadt und mit ihr das Barrio de las Letras, das Viertel der Literaten und Lebenskünstler, wieder aufwacht, wenn in den Tavernen und Cervecerias das Bier und der Wein fließen, wenn in kurzer Zeit alle Tische in den Wintergärten der Restaurants rund um die Plaza de Santa Ana und entlang der Calle de las Huertas besetzt sind.
Noch aber ist sie in ihrem Stammlokal unter sich, eine Gruppe hochgewachsener Herren mit langen Haaren und stolzem Blick. Vor den Bildern verstorbener und lebender Flamenco-Ikonen schlagen sie Gitarren-Akkorde an und tauschen sich aus über Aire, die Wiedergabe von Anmut und Stimmung, über Palmas und Jaleos, den Rhythmus des Händeklatschens und die aufmunternden Zurufe, die nicht nur aus dem Publikum kommen. Es sind Gitanos, Zigeuner. Das ist auch in Spanien zum Unwort geworden, sie selbst nennen sich Kalé und zählen sich zu den Roma.
In der Casa Patas, wie überhaupt in der Flamenco-Szene, sind sie Stars, füllen allabendlich dieses Lokal, anderswo, vor allem in Andalusien, aber auch in Madrid, sogar große Konzertsäle. Flamenco ist längst zum Kult geworden, und außerhalb seiner Hochburgen in Sevilla, Granada oder Cordoba finden sich vor allem in der Altstadt von Madrid die Musiker, Tänzer und ihre Zuschauer jeden Abend, jede Nacht zu großer Show oder zu ungeplanten Einlagen zusammen.
Nur an wenigen Orten in der Altstadt von Madrid lässt sich der Seele des Flamenco so nahe kommen wie in der Musikkneipe Casa Patas in der Calle de los Canizares. Vielleicht noch im Candela, ein paar Gassen weiter, in der schmalen Calle del Olmo. Oder, mit etwas Glück, auch im La Solea, einer Flamenco-Bar an der Cava Baja, in der sich an den Wochenenden die Liebhaber der Szene, Aktive wie Passive, auf spontane Auftritte freuen.
Die Cava Baja, wörtlich der nied-rige Graben, war im Mittelalter Teil der Stadtmauer. Heute ist sie, zusammen mit der Parallelstraße Cava Alta, ein Wallfahrtsort für Genießer, für hungrige und gut gelaunte Madrilenos aller Alters- und Einkommensklassen. Die beiden Gassen gehören zum Barrio La Latina, dem Altstadtviertel rund um die ehemalige Kathedrale San Isidro, die dem Schutzheiligen der Hauptstadt geweiht ist. Für den Besuch dieses und vieler anderer Gotteshäuser, ebenso wie für die ausgiebige Besichtigung der großen Museen, vom weltberühmten Prado über das Kunstzentrum Reina Sofia bis hin zur Sammlung Thyssen-Bornemisza, eignen sich gerade die ruhigen Wintertage besonders gut.
Von der europäischen Hochkultur zurück zur spanischen Esskultur: Von San Isidro zur Plaza de Tirso de Molina sind es nur ein paar Schritte. Der gemütliche Platz ist gesäumt von Tapas-Bars; ein guter Ort, um nach traditioneller Art mit ein paar köstlichen Kleinigkeiten oder auch nur mit einem Glas Rioja und dem Pan Blanco, dem typischen Weißbrot der Region, den Abend einzuleiten. Oliven gehören dazu, sonnengetrocknete Tomaten, oft auch frittierte Sardellen, manchmal Miesmuscheln, Paprikaschoten, marinierter Thunfisch und Tortillas. Stunden später, nach einem Bier hier oder einem Sherry aus dem Fass dort, nach ein paar Stücken von der wunderbar scharfen Chorizo-Wurst oder einem Bocadillo, einem belegten Brot, setzt man sich zum Abendessen hin, am liebsten mit Freunden oder mit der ganzen Familie.
Der Schinken darf dabei nicht fehlen, der luftgetrocknete Jamon Serrano, der in den meisten Tavernen zwischen dem Santa Ana-Platz und den Cava-Gassen von der Decke hängt und erst recht in den Markthallen der Metropole. Sie sind inzwischen nicht nur Einkaufsquelle, sondern beliebter Treffpunkt für Gourmets aus aller Welt. Ein Altstadtbummel ohne einen Besuch im Jugendstil-Mercado San Miguel, der wohl schönsten der fast 50 Hallen von Madrid, wäre eine Sünde.
So wie die Märkte, die Tavernen und die Flamenco-Kneipen sind auch die großen und die kleinen Plätze der Stadt Bühnen praller Lebenslust, wie es sie in dieser Form und Vielfalt kaum irgendwo sonst in Europa gibt. Da ist die pompös wirkende Plaza de Espana, auf der, zu Füßen ihres auf dem Sockel sitzenden Schöpfers Cervantes, die unsterbliche Figuren Don Quijote und Sancho Panza über den Platz reiten. Hier nimmt die Gran Via ihren Anfang, der Prachtboulevard dieser Stadt, Einkaufsmeile von Weltformat und Museum moderner Architektur gleichermaßen. Und da ist, etwas weiter südlich die Plaza Mayor, unter deren Laubengängen auch jetzt in der kalten Jahreszeit fast rund um die Uhr Betrieb herrscht.
Und dann ist da, nur zehn Minuten zu Fuß entfernt, die Puerta del Sol. Dieser Platz, dessen Name an das Sonnentor aus dem Mittelalter erinnert, ist der Kilometer null für alle sechs Nationalstraßen des Landes; es ist Spaniens geografischer Mittelpunkt, und es ist das eigentliche Herz von Madrid. Von hier ging im Mai der Protest der vorwiegend jungen "Empörten" aus, der wenig später ganz Spanien erfasste.
Hier, allen aktuellen Problemen Spaniens zum Trotz, wird auch in diesem Jahr traditionsgemäß die letzte Nacht des alten Jahres zelebriert. Wenn um Mitternacht vom Turm eines ehemaligen Postgebäudes aus dem 18. Jahrhundert die Glocken läuten, beeilen sich einige Tausend Menschen auf dem Platz, zwölf Weintrauben im Sekundentakt zu schlucken, zu jeden Glockenschlag eine, symbolisch für die kommenden zwölf Monate. Andere bemühen sich, je nach Temperatur und Temperament, ein Stück ihrer Unterwäsche zu zeigen: Rot muss sie sein, rot wie die Farbe des Glücks, das auch mit diesem kuriosen Brauch herbeigelockt werden soll: Bienvenido nuevo ano.