Das Schienennetz auf Java, der bevölkerungsreichsten Sunda-Insel, stammt aus der Kolonialzeit der Niederlande - und ist bis heute so geblieben.
Drei lang gezogene Pfiffe, und die Türen schließen sich, die Ventilatoren an der Zugdecke verbreiten einen Hauch unnatürlicher Kühle. Ruckelnd und pfeifend setzt sich der Zug in Bewegung. Ein paar magere Ziegen, die eben noch genüsslich vor der Lokomotive und auf den Nebengleisen in Abfällen gewühlt haben, springen aufgeschreckt hoch und suchen ein paar Meter weiter nach Essbarem. Die Händler auf dem Bahnsteig ziehen sich zu einem Nickerchen unters Dach zurück.
Ein tropischer Morgen in Semarang an der Nordküste Javas. Eine Stunde lang hat es heftig geregnet, danach war alles in neblig-feuchte Wärme gehüllt, die eigenen Kleider, die schlaffen Palmwedel, eigentlich der ganze Bahnhof Tawang, die zentrale Station dieser Millionenstadt. Der Rajawali-Express nimmt stotternd Fahrt auf, viereinhalb Stunden sind es bis Surabaya im Osten der Insel Java.
Java ist bei Weitem nicht die größte, wohl aber die bevölkerungsreichste Insel Indonesiens: eine tiefgrüne Truhe voller Natur- und Kulturschätze in einem Archipel des Umbruchs, und doch noch immer voller Geheimnisse und Wunder. Ideales Ziel für Entdecker und für Reisegenuss in vollen Zügen - ob selber organisiert oder bei einer Agentur vor Ort gebucht.
Drei Minuten lang ruckelt es, dann bleibt der Zug mit dem Nachnamen Express schon wieder stehen, und die Hitze dringt in den Waggon, weil jemand eine Tür geöffnet hat. Dann wieder drei Minuten Fahrt, aber diesmal rückwärts, dem Bahnhof entgegen, und schon steht er erneut. Die heiße Luft, vom Ventilator an der Decke nur mühsam verteilt, macht schläfrig. Brechts Lied vom Surabaya-Johnny kommt mir in den Kopf, Lotte Lenya hat es gesungen, Milva und Esther Ofarim, vergessen, längst vergessen: "... und du sagtest, so wahr ich hier steh, du hättest zu tun mit der Eisenbahn. Und nichts zu tun mit der See. Du sagtest viel, Johnny, kein Wort war wahr, Johnny ..."
Nach einer halben Stunde Hin und Her rollt Indonesien langsam an mir vorbei, draußen vor den Fenstern, die nun nicht mehr beschlagen sind. Ich sauge diese Bilder auf, und es wird mir nicht zu viel: Kokosplantagen, Bananenfelder, Reis- und Gemüsefelder, in denen Menschen mit Hacken und bloßen Händen arbeiten, um die Hüften den Lendenschurz, auf dem Kopf den typischen spitzen Strohhut. An den Schranken warten Frauen und Männer mit einem Wasserbüffel am Strick oder mit Fahrrädern, auf beiden Seiten mit Körben behängt, die voll mit Viehfutter sind. Es sind die Szenen des ländlichen Asiens, vertraut und doch immer wieder spannend und berührend.
Der Zug schlingert an manchen Stellen ziemlich heftig, denn die schmalen Gleise stammen aus der Zeit der holländischen Besetzung. Über den Schienenweg haben die niederländischen Kolonialherren, wie nebenan die Engländer und die Franzosen, die Portugiesen und die Spanier, die exotischen Gewürze, später auch Tabak, Kaffee, Tee und Kakao an die Küsten geschafft; mit Dampfzügen durch den Dschungel haben sie sich diese damals so entlegenen Welten erschlossen und dabei auf Kosten der Einheimischen eine goldene Nase verdient.
Die meisten Züge im heutigen Indonesien sind längst bequem und kaum unpünktlicher als unsere Bahn. In den Waggons der ersten Klasse flimmern Werbesendungen über die Bordbildschirme, und die Zugbegleiter verteilen hin und wieder Kleinigkeiten an die Kinder. Aber noch immer, auch mit den Diesel- und Elektroloks unserer Tage, ist eine Reise kreuz und quer durchs Herzland des alten Ostindiens ein Abenteuer. Im Speisewagen dampft der Wok, und beim Essen der höllisch scharfen Reisgerichte muss man allen Turbulenzen zum Trotz die Tabletts auf den Knien balancieren, weil es keine Klapptische gibt.
Irgendwann beginne ich von einem Waggon zum anderen zu wandern. Abenteurer des Schienenstranges hocken da, wie man sie nur in solchen Zügen treffen kann. Da sind Mijnheer und Mefrouw Vandenberg aus Rotterdam, unterwegs auf den Spuren ihrer Vorfahren, die bis in die 1940er-Jahre auf dieser Insel Tabak angebaut und Hunderte Javaanse Jongens auf ihren Plantagen beschäftigt haben. Da ist ein Konditor aus Heidelberg, der als Chefpatissier durch die Nobelhotels Asiens getingelt ist, danach über Jahre dem Sultan von Brunei seine Leibspeisen gekocht hat und den ich wenig später auf einer Kaffeeplantage, die inzwischen ein Wellness-Resort ist, wiedersehen sollte. Und da sind die jungen Globetrotter aus aller Welt, die unermüdlichen Rucksack-Reisenden auf der Suche nach ihrem speziellen Ort.
Vor drei Wochen in Jakarta, dem alten Batavia der Holländer, hat diese Reise begonnen. Im Hafen Sunda Kelapa habe ich die Pinisi gesucht und gefunden, die alten Lastensegler, die wie zu Joseph Conrads Zeiten durch ein "Meer der Träume" schippern, die Javasee, die Flores-See, die Bandasee rauf und runter. Jakarta ist ein Moloch, der am Verkehr erstickt, zehn Millionen Einwohner oder mehr, keiner weiß es genau. Aber in Kuta, im ehemaligen holländischen Viertel um das gut erhaltene Stadhuis und den Kali Pesar, stehen sie noch, die Kontorhäuser und heruntergekommenen Villen der Pfeffersäcke. Und in "Churchill's Bar", Teil des legendären Cafés Batavia, wird nach wie vor der beste Genever jenseits der Niederlande ausgeschenkt.
Die Relikte von Batavia atmen den morbiden Charme der Tropen. Das moderne Jakarta hingegen wächst in die Höhe und wuchert in die Breite, es ist eine Stadt, die alle Probleme dieser Region "ausschwitzt". Mit einem Ticket für den Argo-Parahyangan-Zug flüchte ich nach Bandung, in die kühleren Berge Westjavas, 130 Kilometer nach Südosten, dreieinhalb Stunden Serpentinenfahrt. Spannende Tage im Vulkanland, erholsame Stunden in den Teegärten, Spurensuche in den alten Vierteln der Stadt und in einem Kolonialgebäude, in dem seit der Konferenz der Blockfreien 1955 Nehru und Sukarno und andere Führer der seit damals sogenannten Dritten Welt hocken - aus Holz modelliert, versteht sich.
Und dann heißt mein Zug "Lodaya Pagi", das Ziel Yogyakarta, die alte Sultanstadt, die hier alle nur Yogya nennen, das kulturelles Herz Javas. Ich gönne mir "Eksekutif", die erste Klasse, gut acht Stunden Fahrt für weniger als 20 Euro. Wieder zieht draußen Asien vorbei: Reisfelder, Vanillegärten, Dschungel, Mahagoniwälder, Ochsenkarren, Rikschaflotten in den Dörfern. Im Zug wird mal Reis mit Huhn, mal Huhn mit Reis an den Platz serviert. An den Bahnhöfen, alle 20 oder 30 Minuten, drängen Frauen an die Abteiltüren und bieten Bananen und Papayas an, und, kaum zu glauben, Nasi Goreng, Reis mit Huhn. An einer kleinen Station steigt eine junge Frau mit Kopftuch ein und setzt sich in meine Nähe. Sie erzählt, dass sie Surya heiße, übersetzt: die Sonne. Ihre Sehnsucht nach der weiten Welt sitzt tief, und ganz plötzlich fragt sie mich, ob ich sie heiraten will.
Surya scheint nicht einmal enttäuscht zu sein, als ich mich nach höflichem Smalltalk wieder meiner Lektüre und dem Blick ins Grüne widme. Irgendwann schlafe ich ein, und als ich aufwache, rumpeln wir durch die Vororte von Yogya. Die Sonne mit dem Kopftuch ist verschwunden, und auf dem großen Bahnhof von Yogya herrscht Gewimmel. Arief, ein Bekannter, holt mich ab, und wir tauchen tagelang ein in Basare, Tabakfabriken und Batikfärbereien, bevor wir aufs Land fahren, zum Borobodur, dem größten buddhistischen Monument der Welt, zum Prambanan, dem benachbarten Hindu-Heiligtum.
Eine Woche später: Mit Bussen, Pferdewagen, Fahrradrikschas und Lokalbahnen nähere ich mich Solo und Wonosobo und überquere das Dieng-Plateau nach Norden, nach Semarang. Und weiter, die letzte Zugetappe nach Surabaya. Dort, in der Internet-Ecke des Majapahit-Hotels, eines Kolonialbaus, der vor 100 Jahren von den Brüdern Sarkies errichtet wurde, die zuvor das berühmte Raffles in Singapur gegründet hatten, treffe ich einen Hamburger, Dr. Norbert Baas, den deutschen Botschafter in Indonesien. Er hat seinen Sitz in Jakarta und besucht in Surabaya eine Konferenz. Abends im Garten unterhalten wir uns über Indonesien, über Java und seine großen und kleinen Wunder. Der Botschafter, erfahrener Asienkenner, bedauert, "dass die meisten Touristen mit Indonesien nur Bali verbinden". Dabei habe gerade Java so viel zu bieten.
Ich folge am nächsten Morgen seinem Tipp und besuche den alten Teil des Hafens, in dem, wie in Sunda Kelapa in der Hauptstadt, hölzerne Lastensegler auf Ladung warten. Surabaya-Johnny habe ich dort nicht getroffen, auch nicht den weißen Strand von Surabaya, von dem das Hula Hawaian Quartett zu Schelllackzeiten gesülzt hat. Aber das Meer, das trägt noch immer "viele Hundert Boote", wie es im Schlager der 1950er-Jahre heißt, über die Javasee hinweg nach Sulawesi, hin zu den fernen Molukken-Inseln und weiter, immer weiter hinter den Horizont.