Im Bialowieza Nationalpark findet man jahrhundertealte Baumriesen und fast alle Säugetiere Europas. Der Star unter ihnen ist allerdings scheu.
Irek Smercynski drückt das schwere Holztor auf. Hier beginnt das Allerheiligste des Nationalparks – das strenge Schutzgebiet, das Besucher nicht ohne Führer betreten dürfen. Hier beginnt der Wald, der aus der Zeit gefallen scheint. Ein Wald, in dem Wölfe, Luchse und die größten Säugetiere Europas leben und mit ihnen viele Pflanzen, Pilze und Tiere, die anderswo längst ausgestorben sind. Über den Köpfen breiten einige der höchsten Bäume des Kontinents ihre Kronen aus. Sie sind das Tafelsilber des Bialowieza Nationalparks im Osten Polens, des letzten Flachlandmischwaldes in Europa, der die Bezeichnung Urwald verdient.
„Jetzt um 7.00 Uhr ist es eigentlich zu spät. Um Tiere zu sehen, hätten wir früher starten müssen“, stellt Irek klar. Der hagere Mittdreißiger lebt seit seiner Kindheit im abgelegenen Bialowieza und arbeitet neben seinem Job an der Geobotanischen Station der Universität Warschau als Fremdenführer. „Aber für den Primärwald reicht es“, sagt er. „Die Bäume laufen nicht weg.“
Sie fallen nur irgendwann um. Und das ist auf den ersten Blick der größte Unterschied zu Wäldern, die vor allem Holz liefern sollen: Im Urwald von Bialowieza liegen meterdicke Stämme herum: Eichen, Linden und Ulmen, die alt wurden, bis sie ein Sturm zu Boden schickte. Tannen und Eichen werden so hoch wie ein Häuser mit zwölf Etagen. „Ein Drittel der Bäume ist mehr als 150 Jahre alt“, sagt Irek.
56 Säugetierarten leben hier – bis auf Bären eigentlich alles, was ein europäischer Wald bieten kann. Ein Auszug aus der Liste: Dachse, Otter, Biber, Luchse, Wölfe, Rothirsche, Elche und – das Wappentier des Nationalparks – das Europäische Bison oder Wisent. Die massigen Wildrinder sind der Grund dafür, dass es der Bialowieza-Wald durch die Jahrhunderte geschafft hat.
Schon vor rund 600 Jahren reservierten sich polnische Könige die bis zu 900 Kilo schweren, mannshohen Wisente für ihren Trophäenschrank. Zum Schutz der Tiere wurde das Abholzen der Bäume verboten. Die russischen Zaren, die hier zwischen 1795 und 1918 das Sagen hatten, machten es ähnlich: Der Bialowieza-Wald wurde ihr Privatbesitz. Auf das Wildern der Wisente stand die Todesstrafe. Das Ende der Zarenherrschaft und die Wirren des Ersten Weltkrieges machten den letzten wilden Wisenten Europas jedoch den Garaus: Im Februar 1919 schoss ein zuvor entlassener Forstbeamter das letzte Tier in Bialowieza.
Wenig später begann die moderne Geschichte des Naturschutzes in Bialowieza. 1923 wurde der Wald unter Schutz gestellt, 1932 der erste Nationalpark Polens gegründet. Die Wisente waren da schon seit drei Jahren wieder zurück: Aus Tierparks wurden die letzen lebenden Exemplare in eine neue Aufzuchtstation gebracht.
Das Projekt war erfolgreich: Weltweit gibt es nun wieder etwa 3000 Wisente, die alle von der Zuchtgruppe aus Bialowieza abstammen. Allein im Bialowieza-Wald streifen inzwischen wieder etwa 900 wilde Wisente durch das Unterholz. Rund 500 leben auf der polnischen Seite, die übrigen jenseits des EU-Grenzzauns in Weißrussland.
Die beste Chance, Wisente in freier Wildbahn zu erleben, haben Besucher auf dem Bison Track. Der Pfad führt nördlich des strengen Schutzgebiets über eine Strecke von mehr als 20 Kilometern durch den Wald. Er verbindet die beiden Winterfütterungsplätze an den Lichtungen in Babia Góra und Kosy Most. Im Sommer lassen sich die scheuen Wisente, die dann in kleinen Gruppen im Wald verteilt leben, dort jedoch nur in der Dämmerung blicken.
„Am besten so früh am Morgen wie möglich“, hatte Irek empfohlen. 3.30 oder 4.00 Uhr. Oder abends: Jetzt ist es 21.30 Uhr. Vor dem Unterstand von Kosy Most dehnen sich unter einem wolkenlosen Frühsommerhimmel die Feuchtwiesen am Ufer der Narewka aus. Im warmen Licht der niedrigen Sonne tanzen Insekten wie Schneeflocken über dem Gras. Libellen jagen über die Wiese. Das Tageslicht schwindet. Im hüfthohen Gras sucht eine Hirschkuh ruhigen Schrittes ihren Weg. Links am Waldrand äsen Damhirsche. Am Waldrand rufen Vögel mit sehr vielen unterschiedlichen Stimmen, am nahen Fluss quakt ein Frosch. Fliegen surren, Mücken kommen, sehr viele Mücken – Zeit zu gehen.
Bequem lassen sich Wisente hingegen im Bison Reserve betrachten, das über die Landstraße nach Hajnowka bequem mit dem Auto zu erreichen ist. Es gibt Chips, Eis, kalte Getränke aus dem Automaten und in schmucklosen Gehegen hinter Maschendraht Wildpferde, Hirsche, Elche, Wölfe, Luchse und Wisente. Die braunen Tiere mit dem zotteligen Fell liegen in der Sonne und dösen. Sie sind jetzt sicher.