Die Kandahar-Abfahrt ist die anspruchsvollste Strecke der Ski-WM in Garmisch-Partenkirchen. Wie kommt man als Ski-Laie heil hinunter?
Am Anfang, im Sessellift ist die Welt noch in Ordnung. Die Sitzheizung wärmt das Gesäß - und das Gemüt gleich mit. Der Kandahar-Express, so der Name des Gefährts, surrt in einer kleinen Schneise zwischen Baumwipfeln friedlich vor sich hin. Es geht nach oben. Neben mir sitzt Stefan Stankalla, ein sympathischer Naturbursche. Er ist 35 Jahre alt und lebt in Garmisch-Partenkirchen. Ein unerschrockener Typ. Früher war er Profirennläufer. Er wird mit mir die Kandahar fahren, die Piste, auf der ab der kommenden Woche die Ski-Weltmeisterschaften ausgetragen werden.
Für den 26 000-Einwohner-Ort wird die WM das bedeutendste Ereignis seit den Ski-Weltmeisterschaften 1978 sein. Der Olympia-Gastgeber von 1936 arbeitet fleißig am Image als Deutschlands Aushängeschild im alpinen Wintersport. Mehrere Liftanlagen sind in den vergangenen Jahren erneuert worden - darunter besagter Kandahar-Express. Und die Kandahar selbst? Über die Piste verliert Stankalla im warmen Sessellift nur wenige Worte.
Er erklärt mir die Finessen der Streckenpräparation und beschreibt, wie die Fahrer der tonnenschweren Pistenraupen feinfühlig auf unterschiedliche Schneebeschaffenheiten achtgeben. Ich erfahre, dass die Herren-Piste mit Wasser präpariert wird und man bei den Damen auf die künstliche Vereisung verzichtet. Mit geschlossenen Augen könnte Stankalla die 3,3-Kilometer-Strecke nehmen, so gut kennt er sie. Trocken sagt er: "Es ist die technisch anspruchsvollste Strecke im gesamten Weltcup." Das Lauberhorn-Rennen in Wengen fällt mir ein, das Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel, die Saslong-Abfahrt in Gröden. Technisch sind sie gegen die Kandahar zweite Garnitur? Mein Gemüt gerät in Wallung.
Der Lift endet am Kreuzjoch, einer 1700 Meter hohen Erhebung zwischen Kreuzeck und Hausberg. Zur Rechten geht der Blick hinauf zur Alpspitze, zur Linken ruht 950 Meter tiefer Garmisch-Partenkirchen. Auf dem schmalen Plateau warten eine Handvoll Skifahrer. Sie schauen in die schattige Tiefe, dann geben sie sich einen Ruck, schwingen hinab, schon sind sie nicht mehr zu sehen. Manch einer schaut zu lange in die Tiefe und verdrückt sich auf einer schmalen Ausweichroute durch den Wald. Stankalla liebt diesen steilen Einstieg in die Kandahar-Abfahrt. Hier starten die Herren ins Abfahrtsrennen, die Damen beginnen weiter unten.
Unzählige Male stand Stankalla hier oben - als Kind, als Junioren-Weltmeister, als Weltcup-Profi und heute im Amt des Rennleiters der Ski-WM. "Im Rennen beschleunigt man hier von null auf hundert in vier Sekunden", sagt er. Seine Ski ragen über die Kante, die das Plateau vom Starthang trennt. "Was jetzt kommt, ist Dauerstress", er stürzt sich hinab, drei große Schwünge, eine scharfe Rechtskurve, und der menschgewordene Porsche ist verschwunden. Ich folge ihm - im Vergleich bin ich ein Traktor mit angezogener Handbremse. Der Hang macht sich sofort in den Oberschenkeln bemerkbar. Die Rechtskurve bringt kurz Entlastung, links folgt gleich die nächste Klippe. Dort wartet Stankalla, ganz gelassen, von Anstrengung keine Spur - ein Rennfahrer eben.
Der Tröglhang, der nun kommt, ist so steil wie der Starthang, nur länger. "Die Rennläufer werden hier schon die Höchstgeschwindigkeit erreichen, rund 130 Stundenkilometer", sagt Stankalla. Pausen sind nicht drin, ein bisschen wie die Rennfahrer soll man sich fühlen. Nach dem Tröglhang wird es flacher, aber nicht lang. Einer Kurve folgt der Panorama-Sprung. Stankalla nimmt Rücksicht. Im gemütlichen Tempo geht es Richtung Eishang. "Der heißt nicht umsonst so", sagt er. "Er steht den ganzen Winter im Schatten und wird automatisch eisig." Schöne Aussichten. Das Panorama des Werdenfelser Landes und den Blick ins Tal der Marktgemeinde muss ich mir ein andermal gönnen.
Der Eishang - in der Tat ein hartes Stück - ist geschafft. Es wird wieder steiler. "Hier kannst du dich nicht mehr durchschwindeln. Schlampig fahren funktioniert nicht." Ein warnender Ton in Stankallas Stimme, aber so bereitet der Meister mich mental vor: "Es folgt eine Abfolge schwieriger Kurven."
Die Kandahar ist an keiner Stelle ein Ort für Sonntagsfahrer. Wer die Strecke nimmt, muss wissen, was er tut. Die Profis werden bei der WM zwei Minuten benötigen, um unten heil anzukommen. Es werden spektakuläre zwei Minuten sein. Wer die Rennen auf der Kandahar kennt, weiß um ihre Dramen. Seit Jahrzehnten werden hier Sensationen gemacht, Favoritenträume zerstört, spektakuläre Bilder für die Ewigkeit produziert. Auch tragische Ereignisse wie der tödliche Sturz der österreichischen Rennläuferin Ulrike Maier 1994 gehören dazu. In seiner Olympia-Bewerbung für die Winterspiele 2018 will München mit Garmisch und der Kandahar das Olympische Komitee überzeugen. Diese 3,3 Pistenkilometer, deren Name sich von dem wintersportbegeisterten britischen General Earl of Kandahar herleitet, genießen Weltruf.
Stankalla ist sie alle hinuntergebrettert, die berühmtesten Abfahrten im Skizirkus. Wengen findet er "übertrieben lang", Kitzbühel tut seiner Meinung nach ziemlich weh, "wenn man Fehler macht". Und Gröden? Es war 1999, der Rennfahrer noch recht jung und unerfahren, verschätzte sich bei den Kamelbuckeln und stürzte so schwer, dass er minutenlang bewusstlos blieb. Er brach sich keinen einzigen Knochen, brauchte aber anderthalb Jahre, um sich psychisch zu erholen. Ganz der Alte war er erst wieder 2001. Da kam ihm die Kandahar gerade recht. Im Weltcup fuhr er an einem Wochenende in der Abfahrt und im Super-G in die Top 10. Auf der Heimstrecke holte er die besten Ergebnisse seiner Karriere.
Zehn Jahre später hat sich viel getan. Die Kandahar ist in mehreren Bereichen zweigeteilt. Die Damen nehmen die kurvenreichere Strecke, die Herren rasen auf der parallel angelegten Piste hinab, ihr Weg ins Tal ist direkter, steiler, waghalsiger. Keine Frage, welchen Hang Stankalla bevorzugt. Ihm kann es nicht schnell genug gehen.
Wir nähern uns der steilsten Stelle im gesamten Weltcup. Als die Herrenstrecke 2009 fertig wurde, entschieden Einheimische, das Gefälle von 92 Prozent respektvoll "Freier Fall" zu nennen. Für die Rennläufer es ein 60-Meter-Sprung ins Nichts sein. Die Zuschauer im Zielstadion können diesen extremsten aller Pistenabschnitte bereits einsehen. Wir nehmen das 92-Prozent-Gefälle. Stankalla fährt sie, ich bewerkstellige sie. Die Tribünen rücken näher, der Zielhang beginnt, die Profis werden hier einen letzten Sprung absolvieren.
Zwei Minuten Extremsport finden dann ein Ende. An den Tribünen angelangt nickt Stankalla mir zu, der Geselle hat den Meister nicht enttäuscht. Er war nur ein bisschen langsam.