Cádiz, so heißt es, ist die älteste Stadt Europas. Dank der Paläste, Kirchen und Promenaden zeugt der Ort von Baukunst aus vielen Jahrhunderten.
Cádiz. Sie ist nur eine kleine Stadt. Aber provinziell zu sein ist ihr unmöglich, aller Schläfrigkeit zum Trotz. Dazu fehlen ihr die Grenzen. Jeder palmengesäumte Boulevard und jede gekrümmte Gasse mündet unweigerlich am Atlantik, der die Herde blendend weißer Häuser, aneinandergepresst auf einer löffelförmigen Landzunge, grollend umtost wie ein Schäferhund, der seine Lämmer hütet.
Die Gebäude selbst strahlen Weltläufigkeit aus - die abgeblätterten Bürgerpaläste mit Balkonen aus Glas oder Schmiedeeisen. Die Schar der großen und kleinen Plätze mit ihren Mosaiken, Denkmälern, Bäumen und Bänken. Traumverloren baden sie morgens in weißem Licht von "gesalzener Klarheit", wie der Dichter Manuel Machado schwärmte.
Cádiz lebt nur zum Teil in der Gegenwart. Alle Schritte durch die denkmalgeschützte Altstadt führen erst einmal zur nächsten Tapas-Bar, belagert von Erasmusstudenten, aber immer auch in die glorreiche Vergangenheit. Die prachtvolle Architektur der, so heißt es, ältesten Stadt Europas erzählt von den Phöniziern, die in "Gadir" vor 3000 Jahren Tempel gebaut haben, von der zweiten Reise des Kapitäns Kolumbus, die hier ihren Anfang nahm, vom Handel mit den Kolonien in Übersee und von kosmopolitischen Händlern aus Flandern, Venedig und Paris.
Nur mit der Zukunft hapert es etwas, wie das heruntergekommene neoklassizistische Schulhaus beweist, auf das Javi gerade empört zeigt. Es stehe schon viele Monate leer, erklärt der Dozent mit den unordentlichen Locken, der an der Universität ein paar Schritte weiter Geschichte lehrt. Weil dort eigentlich ein Luxushotel hin sollte. Aber der Investor ist in der Rezession abgesprungen, die das arme Cádiz, seit Langem reich an Arbeitslosen, hart getroffen hat. Jedenfalls bröckelt die alte Schule vor sich hin. "Das tut weh", sagt Javi, der dort viele Jahre lang im Klassenzimmer saß und am Lehrer vorbei aufs Meer sah, das vor Ungeduld bebte wie er selbst.
Wir haben uns auf dem mit Straßencafés bestückten Plaza de Mina vor der Sprachschule Melkart getroffen, wo Javi ebenfalls unterrichtet - "in diesen Zeiten sind zwei Jobs besser als nur einer" - , und spazieren die Festungsmauer entlang, die die Stadt umsäumt. Neben dem Parque Genovés mit seinen skulptural gestutzten Bäumen breitet sich 400 Meter lang die Sandmuschel von La Caleta aus. Die großen Strände wie die Playa Victoria, also die, die ihren Namen wirklich verdienen, verzieren kilometerlang die Neustadt im Süden, um sich dann hinter dem Löffelstieldamm, der Cádiz mit dem Festland verbindet, im flirrenden Licht der Costa de la Luz zu verlieren. An klaren Tagen kann man von der Calle Campo del Sur, der westlichen Uferstraße, sogar Marokko sehen und jeden Abend die allerschönsten Sonnenuntergänge.
+++Südspanien lädt zum Sonnen ein+++
"007", sagt Javi und lacht gleich darauf über meine Verwirrung. "Ich dachte, Ihnen käme all das bekannt vor. In ,Stirb an einem anderen Tag' wurden hier die Kuba-Szenen gedreht. Der Malecón in Havanna ist die genaue Kopie unserer Küstenpromenade." Er summt eine Melodie - "aus ,Habaneras de Cádiz', kennen Sie das?" - und fängt leise an zu singen: "Havanna ist wie Cádiz mit mehr Schwarzen, Cádiz ist wie Havanna mit mehr Charme ..." Jeden Nachmittag hat sich Javi als Junge auf La Caleta rumgetrieben, dem kleinen Hausstrand, "aber gerade noch rechtzeitig habe ich das Ruder herumgerissen und statt auf den Ozean in meine Bücher geguckt". Zurzeit schreibt er seine Doktorarbeit über die ausländischen Einflüsse auf die Entwicklung der spanischen Medizin im Mittelalter. "Und dafür", ruft er und platzt dabei fast vor Lokalpatriotismus, "sitze ich sozusagen an der Quelle." Er führt mich zu einem der wenigen Neubauten der Stadt. "Schauen Sie da, die medizinische Fakultät, die älteste des ganzen Landes! Und das", er deutet auf ein Denkmal, "ist das Standbild eines Ophthalmologen. Er hat die Kataraktoperation erfunden."
An dem Plaza Fragela leisten der Universität ein Altenheim und das neomaurische "Gran Teatro Falla" Gesellschaft, in dem beim leidenschaftlich gefeierten Karneval die Musikgruppen konkurrieren. Jetzt, um die Mittagszeit, sind Schwärme von Studenten auf den sonnenwarmen alten Steinen des Platzes gelandet. "Typisch Cádiz!", verkündet Javi, "ein Sammelsurium der Stile und Zeiten!" Und verabschiedet sich - seine Geschichtsvorlesung fängt an.
Bis nach La Caleta zurück sind es nur ein paar Schritte durchs dämmrige Gassengewirr Barrio de la Viña, aber trotzdem trifft einen das gleißende Licht, wenn man die letzten Häuser erreicht, heftig wie der Schlag einer Welle. Javi hat recht, der kleine Strand hat Schrebergartenqualität, was umso merkwürdiger wirkt, als ihn zwei imposante, gar nicht kleinbürgerliche Festungen umklammern. Eingeölte Männer paradieren über den Sand, mit großen Muskeln und in viel zu kleinen schwarzen Badehosen. Üppige Mütter haben ihr katholisches Schamgefühl mitsamt den T-Shirts abgestreift und thronen oben ohne auf Faltstühlchen im Sand und drängen verbissen buddelnden Kleinkindern Kekse auf. Neben dem Badehaus aus den 20ern, wo heutzutage Unterwasserarchäologen Reste von Wracks und Kanonen examinieren, leuchten wie weiße Schäfchen unter schwarzen die zwei blassen Körper englischer Sprachschüler auf, die die Nacht in einer der vielen Bars durchgemacht haben.
Kein Windhauch vertreibt die heiße Luft, die der Levante in die Stadt gepustet hat - und der Poniente, der erfrischende Wind vom Atlantik her, wird vielleicht erst im Herbst wieder durch die Straßen wehen. "Donde el levante lucha por sus calles y el poniente no lo invade porque no quiere molestar", singt das einheimische Duo Andy y Lucas in seinem "Rinconcito al Sur" über den Föhn, der die Straßen aufheizt, und seinen zurückhaltenden Bruder aus dem Westen, der nicht stören möchte. Doch die Urlauber schleppen sich trotzdem den Damm zum Leuchtturm des Castillo de San Sebastián entlang und den kürzeren Weg zum Castillo Santa Catalina hinauf. Kurz nachdem die holländisch-englische Flotte 1596 die Stadt fast zerstört hatte, startete König Philipp II. den Bau von Santa Catalina. Seitdem hat keine fremde Macht mehr Cádiz eingenommen. Außer den Touristen natürlich, und selbst die sind fast alle aus Spanien, einmal abgesehen von den Erasmusstudenten und den Kreuzfahrtpassagieren, die stundenweise in die kleinen Geschäfte der zahlreichen Fußgängerzonen einfallen.
Irgendwie hat Cádiz es an internationaler Beliebtheit nie mit Touristenmagneten wie Málaga aufnehmen können. Daran werden wohl weder der neue Hochgeschwindigkeitszug, der von diesem Jahr an nur eine knappe Stunde von Sevilla aus brauchen wird, noch die Feiern zum Jubiläum der demokratischen Verfassung, die hier vor 200 Jahren verabschiedet wurde, etwas ändern. An den Stränden kann das nicht liegen, die sind an der Costa de la Luz feinsandiger als am Mittelmeer, länger und von wilder Weite. Und an den Sehenswürdigkeiten erst recht nicht - die komplett denkmalgeschützte Altstadt, als Insel so bequem kompakt, gleicht einem hervorragenden Freilichtmuseum.
Auch die Umgebung ist unschuldig: Die legendären "Weißen Dörfer", der Nationalpark Coto de Doñana, die Sherry-Stadt Jerez de la Frontera, das Surferparadies Tarifa und der Affen-Hotspot Gibraltar sind schnell zu erreichen.
Vielleicht durfte Cádiz seine Alltäglichkeit behalten, weil es trotz des Damms eine Insel blieb, amphibisch und vom Festland getrennt, vielleicht sogar eher Teil des Meeres. Selbst in der Neustadt sagen sie, auf dem kurzen Weg zur Altstadt: "Ich gehe nach Cádiz." Umgekehrt sagen die Gaditanos, "Ich gehe nach Tierra", zur Erde also, wenn sie in die Neustadt gehen und dabei die "Puerta de Tierra" passieren. "Cádiz ist eine Kreation von Meer und Erde", hatte der Lokalpatriot Javi geschwärmt, "das Universum."
Und darin spielen wir Gott. Wir stehen nämlich um eine weiße Leinwandschüssel herum, auf die eine Camera obscura bewegte Stadtbilder projiziert - im Torre Tavira, einem von 126 noch existierenden Wachtürmen, von dem die Indien-Spediteure einst ihre Schiffe einlaufen sahen. Dabei kommen wir uns vor wie in einem Menschenlabor, nur dass unsere Versuchspersonen nichts von uns wissen. Ganz unverstellt kratzen sie sich an der Nase oder lecken an ihrem Eis. Je nachdem nämlich, wie hoch oder tief die Leinwand gestellt wird, kann man entfernte Bilder einfangen oder Objekte ganz nah sehen.
+++Tanz mit mir in den Morgen+++
Auf meine Bitte hin zoomt die Präsentatorin mitten hinein nach Santa María, wo quasi in jedem Haus eine Flamencotänzerin oder ein Stierkämpfer wohnen. Am Tag zuvor hatte ich an einer Hauswand beim Centro de Arte Flamenco ein gekacheltes Mosaik mit dem Stammbaum zweier lokaler Gitano-Clans entdeckt. Die Was-willst-du-werden-wenn-du-groß-bist-Frage wurde den Kindern wohl nie gestellt, die Antwort war genetisch vorgegeben: Torero, Tänzerin oder Sänger.
"Ich kann dieses Gestampfe und Gekreische nicht ertragen", stöhnt dagegen Oliver. "Salsa ist mir wirklich lieber." Der junge Engländer nimmt mich vom Coto de Doñana, einem streng geschützten Nationalpark rund 50 Kilometer nördlich der Stadt, mit seinem Auto zurück nach Cádiz. Begeistert hatte ich ihm von meiner Jeeptour durch die Lagunen und von den einsamen, wie mit Scheinwerfern angestrahlten Stränden erzählt, von den Wildpferden, Luchsen, Kormoranen, den Wäldern voller Wildschweine, von gigantischen Dünenbergen, bis zu 40 Meter hoch. Und gerade eben von diesem Wandmosaik voller Flamenco-Ikonen.
Oliver, der ehemalige TV-Produzent, der zuvor in Metropolen wie Amsterdam und Budapest für Gewinnspielsendungen gearbeitet hatte, lebt seit zwei Jahren in Cádiz und hat eine kleine Agentur aufgezogen, die Stadttouren per Fahrrad anbietet. Noch hat er sich mit seiner neuen Heimat nicht so richtig angefreundet: "Ich kann zwar jeden Tag surfen gehen, aber hier passiert einfach nichts Aufregendes". Außer dass seine Freundin gerade ein Baby bekommen hat. Als wir in El Puerto de Santa María ankommen, bittet er mich, die Fähre zurück in die Stadt zu nehmen, weil er sie im Krankenhaus besuchen möchte. Die Fähre ist sowieso die schönste Art, sich Cádiz anzunähern. So erspart man sich die Hochhaussiedlungen und Schnellstraßen des zersiedelten Festlands vor der Stadt. Man lässt die Mole voller Angler hinter sich, den Stadtstrand Playa de la Puntilla mit seinen paar Spaziergängern und die zerbröselnden Hafengebäude. Und dann riecht die Luft nach Salz und Benzin, das Wasser spritzt ins Gesicht, der Wind zerwühlt die Haare, und man fährt hinaus, der Silhouette der Stadt entgegen, die in der Ferne auftaucht wie ein geheimnisvolles Vineta.
Als ich später auf dem Plaza de Mina einen Kaffee trinke, kommt mir der Gedanke, dass ich vielleicht beobachtet werde. Und ich winke freundlich lächelnd zum Torre Tavira hinüber, wo ein paar Urlauber vielleicht gerade total verblüfft durch die Camera obscura blicken - auf frischer Tat ertappt.