Bei einer Flussfahrt im Westen Madagaskars trifft der Reisende auf Affenbrotbäume, Krokodile, Flughunde und Erinnerungen ans Jenseits.
Vorgestern ist in Miandrivazo ein angesehener Geschäftsmann gestorben, erzählt Steuermann Legai. Jetzt trauert die Erde, trauern die Ahnen im Jenseits, und so wundert es niemanden, dass heute ein sanfter Regen niedergeht. Der Himmel "weint".
Die Passagiere auf der "Lakanabe" nehmen es gelassen. Weiße Lemuren schwingen sich in den Jackfruchtbäumen tollkühn von Ast zu Ast. Und die Zebu-Frikadellen, die Köchin Baku auftischt, sorgen für einen geglückten kulinarischen Auftakt der Reise. Auf Unwägbarkeiten haben die sieben Reisenden sich eingestellt. Üblicherweise besuchen Urlauber auf Madagaskar die Königstadt Ambohimanga, die Strände auf Nosy Be und Nationalparks. Die sieben aber zieht es in den weniger bereisten Westen der Insel.
Zwei Tage und zwei Nächte wird die Flussfahrt bis nach Belo Tsiribihina dauern. Abends macht das Schiff an einer Sandinsel fest. Die Männer bauen Zelte auf, an Bord kreist eine Flasche Rum. Reiseführer Solo, gelernter Sportlehrer, erzählt von dem großen Fest, zu dem die 76 Angehörigen seiner Familie aus aller Welt anreisen, um die Ahnen aus ihren Gräbern zu holen, sie in Seidentücher zu wickeln, einmal durchs Dorf zu tragen und dann wieder zu begraben. Mit den Ahnen, dämmert es den Reisenden, sollte man es sich auf Madagaskar nicht verderben.
Am nächsten Morgen weitet sich der Fluss. Inseln aus Wasserhyazinthen treiben vorbei, ein Eisvogel schießt über das Wasser, in rotgebänderten Felswänden hängen Kolonien von Flughunden. Die Passagiere fläzen sich am Oberdeck in die Polstergarnitur, plaudern und grüßen zu den Kanus hinüber, die die "Lakanabe" überholt.
Meist sitzen ein oder zwei Touristen darin und lassen sich von Ruderern über den Fluss paddeln. Natürlich haben sie größere Chancen, sich Krokodilen oder Lemuren unbemerkt zu nähern, aber Überraschungen gibt es auch für die Motorisierten: ein Zikadengewitter, einen Flamingoschwarm oder den rauschenden Wasserfall mit seiner wunderschönen Naturbadewanne. Am letzten Morgen hat die Erde ihre Trauer über den Verlust des Geschäftsmannes überwunden. Flaschengrün glänzt das Wasser, weiße Reiher strahlen wie frisch gewaschen.
Schon laufen am Ufer zwischen den Häusern von Belo Tsiribihina mehr Menschen durcheinander, als der "Lakanabe" während der vergangenen zwei Tage insgesamt begegnet sind. Köchin Baku gibt mit einem Kokoshühnchen noch einmal ihr Bestes, und Kapitän Fafa erklärt zum Abschied, dass er und seine Leute ihre Ahnen bitten würden, die Fremden auch auf allen weiteren Stationen dieser Reise zu beschützen.
Ein Beistand, den sie gebrauchen können. Die 100 Kilometer auf ausgewaschener Buckelpiste nach Norden haben es in sich: Staubig sind die Termitenhügel, staubig die Dornenbüsche. Mit gutem Grund ist der Westen der Insel nur wenig bekannt: Man muss ihn sich hart erarbeiten! Auf die Ahnen aber ist Verlass. Sie sorgen dafür, dass Wagen und Insassen sicher den Fluss Manambolo erreichen. Da ist es nur angebracht, ihnen am nächsten Morgen Dank abzustatten. In Einbäumen staken Ruderer Nababani und Ranger Njara die Besucher übers Wasser. Überhängende Felsen aus gelbem Sandstein säumen das Ufer. Von den Bäumen baumeln Bromelien, Farne und Orchideen, aus dem Wald dringen Rufe: Ein Lemur plaudert mit der Welt.
In einer Felsspalte haben die Alten ihre letzte Ruhe gefunden: Zwischen offenen Särgen aus verwittertem Palisanderholz liegen menschliche Schädel und Knochen, dazwischen Tuchfetzen, vermodernde Geldscheine und eine leere Flasche - Überreste von Opfergaben. Es sind Gräber der Vazimba, eines ausgestorbenen Volkes. Nababani sprüht einen Schluck Wodka darüber, spricht respektvoll mit den Seelen und bittet sie, Fotos zu erlauben. Das gehe in Ordnung, lassen sie wissen - ebenso würden sie die Reisenden weiterhin sicher durch das Land geleiten.
Und wieder ist diese Unterstützung der Altvorderen willkommen, im nahen Nationalpark Tsingy de Bemaraha. "Mitsingi" heißt "Auf Zehenspitzen gehen". Aufmerksamkeit ist bei so vielen Spalten und wackligen Steinen auch angebracht. Durch Höhlen und Rinnen windet sich der Weg, durch Schluchten, in denen Wurzeln von Flamboyantbäumen baumeln wie Wasserleitungen. Dann geht es steil nach oben. Graue Orgelpfeifen ragen empor, Spitzbogen reiht sich an Spitzbogen, ein vollendetes gotisches Ensemble hat die Natur geschaffen. Vor 200 Millionen Jahren erstreckten sich hier die Korallenriffe eines Ozeans. Erdbeben haben sie gehoben, Wind und Regen ausgewaschen und übrig geblieben ist ein steinernes Meer gleichmäßig gerippter Zacken.
Die Fahrt zurück nach Süden, nach Morondava, dauert einen Tag. Zur Linken und Rechten ragen bauchige Säulen wie Ausrufezeichen in den Himmel. Gott sei verärgert gewesen über den unersättlichen Baobab, heißt es, weil er sich das Recht herausnahm, mehr Wasser zu speichern als andere Bäume. Zur Strafe zog er ihn aus der Erde und steckte ihn verkehrt herum wieder hinein, sodass das wirre Wurzelwerk jetzt seine Krone bildet. Jeder der Affenbrotbäume ist beeindruckend. Doch dann tauchen die Stars auf: der über 800 Jahre alte Heilige Baobab. Die ineinander verschlungenen Liebenden Baobabs. Und schließlich die Baobab-Allee. Japaner mit Gesichtsmaske haben Stative aufgebaut, Spanierinnen streiten lauthals über die richtige Belichtung, und pünktlich, als sei er bestellt, rasselt ein Zebu-Karren auf der Straße daher, gehüllt in eine staubige rotgoldene Aura. Was für ein Bild, was für ein Abschied vom Wilden Westen Madagaskars. Auf die Ahnen ist eben Verlass.