Die großen Städte der Westküste waren einst Hochburgen der “Blumenkinder“. Was blieb von ihrer Suche nach Liebe und Frieden auf dieser Welt?
In dem kleinen Laden an der Ecke Haight/Masonic stapelt sich das Klopapier. Präsident Bushs Gesicht mit Sprechblasen seiner unglücklichsten Aussagen kann Tausende Male abgewickelt und weggespült werden. Die Rollen finden reißenden Absatz. Im Regal daneben liegen Rastafari-Mützen. Batik-T-Shirts, Schlaghosen in Regenbogenfarben und Blusen mit Flatterärmeln baumeln auf dem Kleiderständer in der anderen Ecke. Kleine Körbe auf der Vitrine vor der Kasse bergen unzählige Aufnäher, Aufkleber und Sticker, die an ehemals große Musiker wie Grateful Dead, Janis Joplin und Jefferson Airplane erinnern. Darunter, hinter Glas verriegelt, brillieren die Haschischpfeifen wie Blumenvasen in einer Muraner Glasausstellung.
"Flower Power" haben wir unsere eigene kleine Sightseeing-Tour durch San Francisco und Umgebung getauft. Kein Reiseführer brachte uns her, nur der Stadtplan und die Neugier. Denn in San Franciscos buntestem Bezirk zwischen den Straßen Haight und Ashbury herrschte einst die Macht der Blumen. Aber Läden, wo sie zu bekommen wären, finden wir nicht. Auch keinen Menschen, der uns mit Blumen im Haar entgegenkommt. Scott McKenzie hatte das schließlich in seinem größten Hit gefordert: "If you are going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair." Auf der Haight Street finden wir stattdessen Headshops, fernöstliche Souvenirläden, Secondhand-Geschäfte für Schallplatten und Pizzabuden.
Die farbenfrohen Fassaden zeugen vom Zentrum der Flower-Power-Ära, die hier ihre Anfänge nahm. Hinter den Türen dieser viktorianischen Holzhäuser haben sich Bands wie die Grateful Dead oder das Kingston Trio formiert. Hier haben die Blumenkinder freie Liebe gelebt und das Ende aller Kriege gefordert.
Vielleicht ist es der Geist der Sechziger, der immer noch Künstler und Aussteiger in das Hippie-Viertel zieht. Vielleicht ist es auch nur die Möglichkeit, mit dem Straßenauftritt in einer prädestinierten Umgebung ein wenig Geld einzuspielen. Kids in schwarz-roter Punkkluft kommen uns entgegen. Ein Mädchen in Jeans und Hardrock-T-Shirt spielt, an eine Mauer gelehnt, auf ihrer Gitarre und singt dazu. In einer Seitenstraße schwatzen die Obdachlosen miteinander. Auf der anderen Straßenseite kommt gerade eine Gruppe Touristen vorbei und nimmt Kurs auf den Laden für alternative Literatur. Sie stöbern durch hinduistische und buddhistische Weisheiten aus Indien, Nepal und Tibet, doch die meisten decken sich mit den üblichen Souvenirs ein. Wir selbst lassen das Viertel hinter uns, wie es auch die Hippies taten, als ihnen 1965 der Rummel in Haight-Ashbury zuviel wurde.
Von San Francisco führt der Highway 101 über die Oakland Bay Bridge nach Berkeley, die Golden-Gate-Brücke sehen wir nur im Rückspiegel. Die berühmteste Universitätsstadt Kaliforniens soll heute noch Hochburg der echten Hippiekultur sein. Wenn es hier keine mehr gibt, so sagt man uns, dann gibt es sie nirgends mehr.
Nach Souvenirshops und neumodischen Straßenmusikanten in San Francisco hoffen wir nun auf der zum Campus führenden Telegraph Avenue in Berkeley einige Althippies zu treffen - und werden nicht enttäuscht. An aufgereihten Ständen stehen sie und verkaufen Bücher, Batik-T-Shirts, Friedensbotschaften, Armbänder. Franklin ist einer von ihnen - graues Haar und Zauselbart, Peace-Zeichen auf die Sonnenbrille geklebt, die Militärjacke trägt er aus Protest gegen den Krieg. Routiniert sortiert er seinen Stand, wie wenn er seit 40 Jahren nie etwas anderes getan hätte, als hier Aufnäher und Handbücher zur Marihuana-Züchtung zu verkaufen. Vor den Kisten voller Aufkleber sitzt Kermit der Frosch aus der Muppet-Show. Franklin lässt die grüne Handpuppe an der Hippie-Kultur teilhaben, deshalb hat Kermit auch einen dicken Joint in seinem Froschmaul. Als wir belustigt in der Aufnäherkiste zwischen Hanfblättern und Peace-Zeichen nach Led Zeppelin wühlen, verwickelt uns Franklin in einen amüsanten Disput über die größten Bands aller Zeiten. Selbstverständlich ist da von Woodstock die Rede. Dann erzählt Franklin von den Zeiten, als man auf dieser Straße hockte, mit Sit-ins protestierte und für die Errichtung des People's Park ins Gefängnis kam. Er kann sich erinnern, dass bei diesem blumigen Widerstand sogar jemand erschossen wurde. Schließlich schimpft er auf das Establishment, auf die Regierung - die von damals und die von heute - und besonders auf Mister Bush.
Am nächsten Stand bietet Barbara ihre selbst kreierten Postkarten an - deren einziges, variierendes Motiv ein Herz ist. 1972 sei sie von San Francisco nach Los Angeles gezogen, um dort zu malen. Wie jedes überzeugte Blumenkind malte sie Bilder der Liebe, mit Herzen in allen Farben und Größen. Das simple Symbol der Liebe sollte sie nicht reich machen, es hat sie lediglich über Wasser gehalten. Sie sieht ähnlich verarmt aus wie Franklin, der in einem Bus haust. Vor zehn Jahren kam Barbara nach Berkeley. Hier könne man den Hippies noch etwas abgewinnen, sie sogar mögen, und außerdem sei hier noch etwas zu verdienen. Jeden Tag baut sie ihren Stand auf und verkauft Grußkarten für drei Dollar mit einem flammenden oder eisblauen Herzen darauf - seit mehr als dreißig Jahren.
Die Telegraph Avenue bringt uns direkt zum Campus der University of California, über dem der Sather Tower erhaben thront. Die umgebenden Gebäude zeigen architektonische Parallelen zu englischen Universitätsstätten. Der angrenzende People's Park ist klein, überschaubar und sehr geschichtsträchtig. Obdachlose haben sich das kleine Stück Land zur Heimat gemacht. Der angehängte Ohlone Park ist um einiges größer und lädt zum Radfahren und Spazieren ein. Wir schlendern eine halbe Stunde in der kalifornischen Sonne über die grünen Rasenflächen und kehren zum Campustor an der Telegraph Avenue zurück. Dort sind gerade ein paar Leute zum Rock 'n' Roll-Tanzen zusammengekommen und schwingen fleißig die Hüften. Gerade als wir gut gelaunt zum Parkhaus abbiegen wollen, entdecken wir an der Ecke einen kleinen Blumenladen
Mit einer Blüte im Haar geht es zurück nach San Francisco. Scott McKenzie wäre begeistert.