Glinde. Mehr als 2000 Kinder werden jährlich in Stormarn geboren. Aber nur 32 Hebammen sind gemeldet. Das Abendblatt hat eine begleitet.
Wenn Carolin Lüdemann gefragt wird, warum sie Hebamme geworden ist, dann beginnen ihre Augen zu leuchten. „Weil es der großartigste Beruf auf der ganzen Welt ist. Ich begleite Menschen durch die aufregendste Zeit ihres Lebens. Für mich gibt es nichts Schöneres.“ Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn auch, wenn die Glinderin mit Leib und Seele Hebamme ist, drückt der Schuh an allen Ecken und Enden. Das ist nicht zu überhören, wenn sie von ihrem Berufsalltag erzählt. Zu wenig Zeit, zu wenig Geld, Zeitdruck und Bürokratie: Wenn sie anfängt zu berichten, welche Steine Hebammen von der Politik in den Weg gelegt werden, dann kann sie kaum aufhören. Aber von vorn.
8 Uhr in Glinde. Gerade will Carolin Lüdemann zu ihrer ersten Patientin aufbrechen, als ihr Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung ist Anke. Ihre Tochter Rieke ist im August zur Welt gekommen. Eigentlich hatte die 45-Jährige die Betreuung abgeschlossen. Das heißt aber nicht, dass die Hebamme nicht noch immer ein offenes Ohr für Anke hat. In einer Speckfalte unter dem Arm hat Rieke eine wunde Stelle. Die Mutter fragt, was sie tun kann. „Weißt du was, ich komme gleich einfach kurz vorbei.“ Gesagt, getan. Carolin Lüdemann steigt ins Auto.
Die Politik verschließt die Augen
Zehn Minuten später öffnet Anke mit Rieke auf dem Arm die Tür. Sie gehen nach oben ins Kinderzimmer, die Hebamme nimmt der Mutter die Tochter ab und legt sie auf den Wickeltisch. „Bist du extra für mich so früh aufgestanden?“, fragt sie die Kleine zur Begrüßung. Auf die Stelle trägt sie eine Salbe auf, deckt das Ganze mit Heilwolle ab, zeigt der Mutter, wie sie es in Zukunft machen kann. Nach dem Baden soll sie darauf achten, dass alle Falten trocken sind. Präventiv eincremen ist nicht nötig. „Sieht aus wie Achselhaare“, stellen die beiden mit Blick auf die Heilwolle in der Achsel fest und müssen lachen. Bei all dem Zeitdruck, dem Carolin Lüdemann ausgesetzt ist, bleibt immer noch Zeit für ein bisschen Spaß und einen kurzen Schnack. Weil sie sowieso gerade da ist, wiegt sie Rieke noch kurz. Die Kleine hat zugenommen und entwickelt sich gut. Die Mutter ist beruhigt, Rieke versorgt. Dann geht es weiter.
Seit 2018 ist Carolin Lüdemann freiberufliche Hebamme in und um Glinde. Sie betreut Frauen in der Schwangerschaft, macht Vorsorgeuntersuchungen und besucht die Familien nach der Geburt ihrer Kinder. Dafür kommt sie zu den Familien nach Hause. Jede Frau kann die Hilfe von einer Hebamme in Anspruch nehmen. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse – theoretisch. Denn es gibt längst nicht genug Hebammen für alle werdenden Mütter. „Das Schlimme ist, dass die Politik davor die Augen verschließt.“ Der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn habe sich zwar mit der Problematik auseinandergesetzt. 2019 wurden in Deutschland etwa 770.000 Kinder geboren, demgegenüber stehen 26.000 Hebammen. „Daraus zog Spahn das Fazit, dass es keine Hebammenknappheit gibt.“ Problem: „Die Zahl 26.000 bezieht sich auf Hebammen, die im Deutschen Hebammenverband gemeldet sind. Dazu gehören auch Rentnerinnen oder solche, die gerade in Elternzeit sind und so weiter. Längst nicht alle sind aktiv. Außerdem ist unklar, wie viele Hebammen wie viele Frauen betreuen.“
Wer keine Hebamme findet, ist auf sich gestellt
Dass es in der Realität sehr wohl eine Hebammenknappheit gibt, sei nicht zu bestreiten. Auch die Akademisierung der Hebammenausbildung, die Spahn auf den Weg gebracht hat, werde daran derzeit nicht viel ändern. „Wer schwanger wird, dem wird geraten, sich unverzüglich um eine Hebamme zu bemühen“, sagt Carolin Lüdemann. „Und trotzdem finden viele Frauen keine, weil die Nachfrage das Angebot bei Weitem übersteigt. Diese Frauen sind dann auf sich gestellt.“ Im Kreis Stormarn werden jährlich etwa 2000 Kinder geboren. 32 Hebammen sind im Kreis gemeldet – was nicht heißt, dass alle im Einsatz sind. „Das sind schlicht zu wenig.“ Auch sie selbst muss vielen Frauen absagen. Fest steht: Wer für die Betreuung vor und nach der Geburt eine Hebamme findet, kann sich glücklich schätzen.
Der nächste Termin ist eine Wochenbett-Betreuung. Nach der Geburt hat jede gesetzlich versicherte Frau zwölf Wochen lang Anspruch auf die Unterstützung einer Hebamme, bei Bedarf auch bis zum Ende der Stillzeit. Direkt nach der Geburt kommt Carolin Lüdemann meist eine Woche lang jeden Tag zur Familie. Sie hilft und berät bei allen Fragen, die die neuen Eltern beschäftigen, beobachtet die Rückbildung bei der Mutter, die Entwicklung des Babys, unterstützt das Stillen, leitet die Eltern in der Babypflege an und mehr. Dafür ist eine Menge medizinisches Fachwissen gefragt: „Das Klischee der Kaffee trinkenden Hebamme, die zum Quatschen vorbeikommt, stimmt einfach nicht“, sagt Lüdemann.
Eltern sind dankbar für die Unterstützung
Das wird auch deutlich, als die nächste Familie die Tür öffnet. Catharina und Sascha sind beide 29 Jahre alt, Sohn Leano ist vor zwei Wochen geboren. „Die Zeit gerade ist super schön“, sagt die Mutter. Trotzdem kommen im Alltag mit dem Neugeborenen täglich Fragen und Unsicherheiten auf – da hilft Carolin Lüdemann weiter. „Ich wüsste gar nicht, was ich ohne ihre Unterstützung täte“, sagt Catharina. Heute fällt ihr auf, dass Leano einen wunden Po hat. Zur Behandlung lässt die Hebamme den Eltern eine Creme da, gibt Anweisungen für den Gebrauch. Außerdem empfiehlt sie, ihn statt mit Wasser mit schwarzem Tee sauber zu machen, das hilft auch.
Heute soll Leano zum ersten Mal gebadet werden. Carolin Lüdemann zeigt den Eltern, wie es geht. „Das Wasser sollte 37 Grad haben“, erklärt sie. Für das Baden ist heute Vater Sascha zuständig. „Baden ist eine schöne Aufgabe für die Väter, da die Mutter, wenn sie stillt, schon für dieses große Thema zuständig ist“, so Lüdemann. Leano sieht zufrieden aus, Vater und Sohn genießen das gemeinsame Baden. Die Hebamme leitet Sascha an, wie er seinen Sohn richtig hält und wo er überall mit dem Waschlappen hin muss. Nach dem Baden wird der Kleine abgetrocknet und angezogen. „Legt ihn regelmäßig auf den Bauch, damit er trainiert, den Kopf zu heben“, gibt die Hebamme den jungen Eltern noch als Tipp mit. Dann geht es weiter.
Den Hebammen fehlt die Lobby
Die Wochenbettbetreuung ist für die Eltern zwar wichtig und hilfreich, lukrativ ist sie für die Hebammen aber nicht – so traurig das klingt. „Für einen Wochenbettbesucht bekomme ich 38,46 Euro brutto“, sagt Lüdemann. „Egal, wie lange er dauert.“ Gerade das ist in der Praxis aber nicht kalkulierbar. „Manchmal geht es schnell, manchmal haben die Eltern aber auch Probleme, die viel Zeit erfordern.“ Das bedeutet, dass der Arbeitstag der Hebamme manchmal um 15 Uhr endet, manchmal aber auch erst um 20 Uhr.
„Die Gebührenordnung für Hebammen ist teilweise ein Witz“, sagt Lüdemann. Für eine Stunde Rückbildungskursus zum Beispiel bekommt sie pro Frau pro Stunde 7,96 Euro, maximal zehn Frauen dürfen in einem Kursus sein. „Ich habe seit 2017 keine Gehaltserhöhung bekommen. Auf der anderen Seite steigen die Beiträge der Haftpflichtversicherung kontinuierlich an.“ Man könne zwar von dem Beruf leben. „Das geht aber auch mit sehr viel Arbeit einher.“ Deshalb findet Lüdemann: „Die finanzielle Entlohnung ist der Arbeit nicht angemessen.“ Dass sich daran nichts ändert, macht die Hebamme wütend: „Das ganze System ist krank. Und niemand schaut hin – weil wir keine Lobby haben.“
Wahrnehmung für den Beruf muss eine andere sein
Carolin Lüdemanns nächste Klientin ist Melissa. Sie ist im siebten Monat schwanger. Die Hebamme kommt regelmäßig zur Vorsorge vorbei, überprüft die Herztöne, die Lage und das Wachstum des Kindes. Die Vorsorgeuntersuchungen kann auch ein Gynäkologe machen. Viele Frauen entscheiden sich für den Gang zum Arzt, haben gar Vorbehalte, das von einer Hebamme machen zu lassen. Carolin Lüdemann kann das nicht verstehen. „Ein Gynäkologe muss alles können rund um die Frau. Geburt und Schwangerschaft sind nur ein Teil davon, eine Hebamme ist genau darauf spezialisiert. Wenn jemand sagt, dass Ärzte im Gegensatz zu Hebammen studiert haben, möchte ich gern antworten, dass ich meine Ausbildung ja auch nicht im Lotto gewonnen habe.“ Lüdemann meint: Die Wahrnehmung für den Beruf muss eine andere sein.
Dass die Hebamme über eine Menge Fachwissen verfügt, wird deutlich, als sie Melissa untersucht. Die 32-Jährige leidet derzeit an Eisenmangel. Das kann während der Schwangerschaft vorkommen. Lüdemanns Tipp: „Viel rotes Obst, zum Beispiel Beeren, aber auch Feldsalat, Rotkohl, Hirse oder Nüsse in die Ernährung einbauen.“ Wichtig: „Nicht zusammen mit Milchprodukten oder Milchersatzprodukten essen, denn Kalzium hemmt die Eisenaufnahme.“ Ein paar Gerichte für den Eisenhaushalt hat die Hebamme auch direkt auf Lager, zum Beispiel Chili con Carne.
Hebammen betreuen auch Eltern von Sternenkindern
„Ich finde es super, eine Ansprechpartnerin für alle möglichen Fragen zu haben“, sagt Melissa. Sie hat sich für eine geteilte Vorsorge von Arzt und Hebamme entschieden. „Damit bin ich sehr zufrieden, weil Ärzte doch oft gehetzt sind und nicht so viel Zeit haben. Hier kann ich alle Fragen loswerden und habe das Gefühl, dass mir zugehört wird.“ Melissa weiß auch, dass sie sich glücklich schätzen kann: „Als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, habe ich sofort fünf E-Mails mit Anfragen verschickt und hatte dann wahrscheinlich Glück, dass es geklappt hat.“
Dass die Chemie stimmt, wussten die beiden auch sofort. „Ich brauche keine Bemutterung oder eine neue Freundin, die mit mir Kekse isst und Babyfotos anguckt, sondern eine Fachkraft, die mich medizinisch berät.“ Dass sie das bei Carolin Lüdemann bekommt, hat sie gleich gemerkt. Heute werden mit einem Dopton die Herztöne des Kindes gemessen. Das hört sich alles gut an. Hebamme und Mutter sind zufrieden. Es kann weitergehen zur nächsten Familie. Dass mit den Babys alles in Ordnung ist, ist leider nicht immer der Fall. „Ich betreue auch die Eltern von Sternenkindern“, berichtet Lüdemann. Das sind Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben. Auch in solchen Fällen können Familien die Unterstützung von Hebammen in Anspruch nehmen. „Das sind schwierige Situationen, die mir schon manchmal nahegehen.“
Aber auch wenn das Kind gesund ist, ist bei der frisch gebackenen Familie nicht immer alles eitel Sonnenschein. Zehn bis 15 Prozent der Frauen entwickeln nach der Geburt eine Wochenbettdepression. Manche Neugeborene schreien mehr als andere. Das und mehr kann dazu führen, dass die ersten Wochen und Monate für die Eltern sehr herausfordernd sind. Umso wichtiger ist es da, Unterstützung durch eine Hebamme zu haben.
Es bleibt kaum Zeit für das Privatleben
Bei der nächsten Familie sieht es zum Glück nicht so düster aus. Irene und Marc sind vor Kurzem Eltern von Tochter Alba geworden. Der Familie geht es gut. Heute steht bei Irene Rückbildungsgymnastik auf dem Plan. Carolin Lüdemann macht mit der 31-Jährigen Übungen, um den Beckenboden nach der Geburt wieder zu stärken. Vorher und nachher ist Zeit für Fragen. „Ich wüsste gar nicht, was ich täte, wenn wir keine Hebamme hätten“, sagt Irene. „Man hat 1000 Fragen. Wenn man zum ersten Mal Mutter wird, weiß man ja überhaupt nicht, was normal ist und was nicht.“ Da kann Carolin Lüdemann meistens schnell beruhigen. Gefunden hat Irene sie über ein Portal, das freie Plätze von Hebammen auflistet.
Doch Carolin Lüdemann will langfristig auch etwas kürzertreten, weil sonst kaum Zeit für ihr Privatleben bleibt. „Ich habe selbst drei Kinder. Mein Mann und ich arbeiten beide Vollzeit.“ Momentan betreut die Hebamme acht bis neun Frauen im Monat, in Zukunft will sie die Zahl auf sechs reduzieren. Das bedeutet, dass auch in Stormarn noch weniger Frauen eine Hebamme finden werden. Das bedauert Lüdemann, aber daran ändern kann sie nichts. Das müssen andere tun. „Ich schaffe es einfach nicht mehr.“