Reinbek/Lübeck. 78 Jahre alte Bewohnerin einer Reinbeker Einrichtung wollte Nachbarin mit Kissen ersticken. Gutachter diagnostiziert schwere Demenz.

Eine 78 Jahre alte Bewohnerin eines Reinbeker Pflegeheims, die versucht haben soll, ihre Zimmernachbarin mit einem Kopfkissen zu ersticken, ist schuldunfähig. Zu diesem Schluss kommt ein neurologischer Sachverständiger, der Helga W. (Namen geändert) im Auftrag des Landgerichts Lübeck untersucht hat. Seit Anfang Mai muss die Seniorin sich dort wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung verantworten. „Die Angeklagte leidet unter einem fortgeschrittenen demenziellen Syndrom, in deren Folge sowohl ihr Sprachverständnis als auch ihre kognitiven Fähigkeiten stark gestört sind“, sagt Dr. Thomas Bachmann, Facharzt für Neurologie und Psychotherapie.

Ein Mitarbeiter musste die Angreiferin losreißen

Helga W. soll am 17. Oktober 2020 in das Zimmer ihrer Nachbarin, der 76 Jahre alten Marianne S., gegangen sein, ein Kissen genommen und der Seniorin dieses ins Gesicht gedrückt haben. Dabei soll W. in Richtung des Opfers gemurmelt haben: „Du sollst sterben.“ Ein Mitarbeiter des Pflegeheims wurde laut Staatsanwaltschaft im Vorbeigehen auf die Damen aufmerksam, versuchte W. zunächst durch lautstarke Aufforderungen dazu zu bewegen, von ihrer Nachbarin abzulassen. Schließlich habe er die 78-Jährige von ihrem Opfer losreißen müssen. Marianne S. soll nach der Tat unter Atemnot gelitten haben und einige Zeit später kollabiert sein. Sie kann in ein Krankenhaus. Helga W. ist seither zeitweilig in einer forensischen Klinik untergebracht.

Seit Anfang Mai steht sie in Lübeck vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft war aufgrund der Demenz-Erkrankung der Angeklagten von Beginn an von einer Schuldunfähigkeit ausgegangen, verhandelt wird deshalb nicht in einem Straf- sondern in einem sogenannten Sicherungsverfahren. Die I. Große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Christian Singelmann soll darüber entscheiden, ob Helga W. in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen wird.

Angeklagte hielt Mitbewohner und Pfleger für Eindringlinge

Gutachter Dr. Thomas Bachmann diagnostiziert der Reinbekerin eine Mischform aus vaskulärer und Alzheimer-Demenz. Helga W. könne nicht mehr orientiert handeln, sei wahnhaft und paranoid. Die 78-Jährige habe nicht verstanden, dass sie gemeinsam mit anderen Bewohnern in einem Pflegeheim lebte, habe dieses für ihr Haus und Pfleger sowie Senioren für Eindringlinge gehalten. Dies sei mutmaßlich der Grund für die gewaltsame Entgleisung gewesen. „Es ist davon auszugehen, dass die Angeklagte die Situation paranoid verkannt hat“, sagt Bachmann. Aufgrund ihrer Erkrankung neige Helga W. zu aggressivem Verhalten. Pflegekräfte hatten vor Gericht geschildert, dass es bei der 78-Jährigen regelmäßig zu verbalen und teils auch zu gewalttätigen Ausfällen gegenüber Personal und Mitbewohnern komme. Beschimpfungen seien täglich vorgekommen, hin und wieder habe die Seniorin im Vorbeigehen andere geschubst oder geschlagen.

Bachmann sieht bei Helga W. Wiederholungsgefahr. „Die Gefahr, dass Frau W. vergleichbare Handlungen erneut begeht, sehe ich als gegeben“, sagt der Experte. Die Seniorin sei eine Gefahr für ihre Mitmenschen. Die Ausbrüche geschähen unvorhersehbar, seien nicht rational zu erklären. „Wenn irgendwo eine Flasche steht, greift Frau W. zu und schlägt zu, so Bachmann. „Fakt ist, dass sie eine hochkontrollierte Situation braucht, im besten Fall mit Eins-zu-Eins-Betreuung rund um die Uhr.“

Im Gerichtssaal beschimpft sie ihre Betreuer

Wie schnell die Stimmung der 78-Jährigen umschlagen kann, wird auch im Gerichtssaal deutlich. Die Seniorin sitzt ruhig in ihrem Rollstuhl, bis die Pflegekräfte, die Helga W. begleiten, um eine Unterbrechung bitten, weil die Reinbekerin Anzeichen von Erschöpfung zeige. Als die Pfleger die 78-Jährige zurück in den Saal bringen, beginnt die Seniorin plötzlich, ihre Begleiter wüst zu beschimpfen. „Dummes Biest“, brüllt sie eine Betreuerin an, einem anderen ruft sie „blödes Arschloch“ entgegen. Der Vorsitzende Richter, Christian Singelmann, versucht, die alte Dame zu beruhigen. „Bisher haben sie das ganz hervorragend gemacht, aber ein wenig müssen wir leider noch weitermachen“, möchte er die 78-Jährige besänftigen. Nach kurzer Zeit gelingt es den Pflegern tatsächlich, Helga W. zu beruhigen.

Eine rechtsmedizinische Sachverständige soll vor Gericht eine Einschätzung geben, welche gesundheitlichen Folgen der Angriff auf das inzwischen gestorbene Opfer hatte. „Es gab bei Frau S. keine Anzeichen für einen Sauerstoffmangel“, sagt Dr. Nadine Wilke-Schalhorst, Rechtsmedizinerin am Universitätsklinikum Lübeck. Sie sehe keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Attacke und dem Kollaps der 76-Jährigen. „Wenn, wäre dieser unmittelbar nach der Tat erfolgt und nicht mit zeitlichem Abstand“, sagt sie. Dennoch sei die Situation für Marianne S. lebensbedrohlich gewesen. „Das Opfer war ebenfalls stark dement und nicht in der Lage, sich zu wehren“, so Wilke-Schalhorst. Die Rechtsmedizinerin geht davon aus, dass Marianne S. wenige Minuten später tot gewesen wäre, hätte der Mitarbeiter Helga W. nicht losgerissen.

Sohn stelle Antrag auf Unterbringung – vergeblich

Vor Gericht sagt auch der Sohn der 78-Jährigen aus. „Etwa 2013 fing es an mit Vergesslichkeit, dann wurde der Zustand meiner Mutter zunächst langsam und nach einer Operation dann rapide schlechter“, sagt der 42-Jährige. Daraufhin sei sie in das Reinbeker Pflegeheim gekommen. Anfang Oktober 2020 habe er bereits einen Antrag auf eine geschlossene Unterbringung seiner Mutter gestellt, den das Amtsgericht Reinbek damals jedoch abgewiesen habe. Eine solche könne nur zum Selbstschutz geschehen, wenn eine Eigengefährdung wahrscheinlich sei, nicht jedoch zum Schutz Dritter, so die Begründung des Gerichts. Demzufolge sei aggressives Verhalten gegenüber Pflegern und Mitbewohnern kein Grund für eine Unterbringung in einem geschlossenen Heim. Das Verfahren soll am kommenden Dienstag, 8. Juni, fortgesetzt werden. Am selben Tag wird auch das Urteil erwartet.