Reinbek. Seit Generationen wird das Rad innerhalb der Familie gefahren. Heute setzt sich Finya Manzel (14) auf den Drahtesel ihrer Urgroßmutter.

Der taubenblaue Rahmen ist schon etwas angerostet, der breite, bequeme Ledersattel ist ebenfalls noch Original. „Den Lenker hat mein Sohn wohl erneuert“, überlegt Gisela Manzel (80), Vorsitzende und Mitbegründerin des Geschichts- und Museumsvereins Reinbek, laut. „Damals hatte das Fahrrad noch eine Stempelbremse, die hatte meine Mutter später noch durch eine sicherere Felgenbremse ersetzen lassen.“ Ihre Mutter, Hertha Plön, hatte das Rad 1953 – bereits gebraucht – gekauft.

Jetzt erlebt es eine ungeahnte Renaissance: Gisela Manzels Enkelin Finya hat sich in das alte Rad der Marke Victoria verliebt. „Ich nehme es immer für den Weg zum Sport“, erzählt die 14-jährige Gymnasiastin. „Eigentlich gehört es meiner Mutter. Mein Vater hatte es ihr wieder zusammengebaut, nachdem ihres gestohlen worden war.“ Sie hat festgestellt: „Es fährt sich richtig gut.“ Da ihr Fahrrad etwas klein geworden sei, nehme sie es nun öfter. „Meine Freundin findet es auch toll, manchmal tauschen wir deshalb sogar die Räder“, verrät der Teenager begeistert. „Wenn meine Eltern mir ein neues Rad kaufen wollen, möchte ich lieber dieses behalten.“ Ihre Mutter könne sich dann ja ein neues gönnen.

Für Hertha Plön war das Rad das wichtigste Transportmittel

Während Finya Manzel zu Fuß zur Schule geht und nur gelegentlich in ihrer Freizeit radelt, war das alte Victoria-Fahrrad für ihre Urgroßmutter Hertha Plön das Transportmittel überhaupt. „Meine Mutter hatte keinen Führerschein“, erinnert sich Gisela Manzel. „Als wir von Schwarzenbek nach Aumühle zogen, wurden ihre Wege plötzlich weiter, und dafür kaufte sie dieses Rad. Sie erledigte damit sämtliche Einkäufe, fuhr zum damals einzigen Wochenmarkt nach Bergedorf, und montags begleitete sie meinen Vater zu Fuß zum Bahnhof.“ Der war Seeschadenberechner und hatte stets dicke Akten zu transportieren. „Die steckte meine Mutter dann in die schwarzen Klemmtaschen auf dem Gepäckträger“, berichtet die Reinbekerin.

Die 80-Jährige hat das Rad selbst kaum gefahren – außer für eine Radtour mit einer Freundin: Dafür durfte sie sich im heißen August 1958 das Fahrrad der Mutter leihen. „Das war wirklich eine besondere Radtour damals“, erzählt Gisela Manzel. „Über Hitzacker, die Göhrde, Bevensen – damals noch ohne Bad – Hösseringen, Undeloh, durch die Heidelandschaft, mit Jugendherbergen und Freibädern und immer wieder mal Picknick am Wegesrand. Und einen letzten großen Eisbecher gönnten wir uns, bevor Aumühle wieder in Sicht kam, in der Waldschänke in Dassendorf – heute der Golfclub.“ Die beiden jungen Mädchen haben unterwegs aus voller Kehle die damaligen Schlager gesungen. Besonders ist der 80-Jährigen der Titel „Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand“ in Erinnerung geblieben, vor allem auch die Fröhlichkeit und Harmonie. „Die Zeit des Reisens begann 1958 ja gerade“, stellt sie fest. Ermöglicht hat ihr die Tour samt schöner Erinnerungen das stabile Rad der Mutter. „Tatsächlich hat es eine ganz besondere Lenkerstellung. Dadurch sitzt man darauf sehr bequem“, sagt Gisela Manzel.

Victoria-Fahrräder werden seit 1886 hergestellt

Die Victoria-Fahrräder sind fast so alt wie die Bergedorfer Zeitung (von 1874): Sie werden seit 1886 hergestellt. 1958 fusionierten die Victoria Werke mit zwei anderen Herstellern zur Zweirad Union. Als die Nürnberger Hercules Werke sie 1966 übernahm, verschwand die Marke. Doch heute sind Victoria- Fahrräder und E-Bikes wieder auf dem Markt. Denn 1997 gab es unter dem Dach des Unternehmens Hermann Hartje KG einen Neustart.

Gisela Manzel berichtet: „Ich habe recht früh meinen Führerschein gemacht und fuhr gar nicht mehr so gern Rad. Aber meine Mutter ließ nichts auf ihr Fahrrad kommen. Sie hat es bis an ihr Lebensende 1987 nie weggeben wollen. Andere, neuere hingegen verschwanden wieder.“ Als sie und ihre Söhne Hertha Plöns Haushalt auflösten, nahm sie das Rad mit. „Mein Jüngster nahm es so weit auseinander, dass es auf dem Garagenboden Platz fand.“ Dort holte er es nun für seine Frau hervor und montierte es wieder zusammen. Er schätzt, dass das Rad aus den 40er-Jahren stammt.

Alte Dinge können ein Wohlgefühl vermitteln

„Mich berührt es, dass dieses Fahrrad nach so langer Zeit nicht nur als Dekoration Begeisterung weckt, sondern tatsächlich benutzt wird, trotz all der schicken, neuen Sachen“, sagt Gisela Manzel. „Die Urgroßmutter wäre jetzt 104 Jahre alt. Also ist nicht alles nutzlos, was man aufhebt. Das birgt auch die Erkenntnis, dass alte Dinge ein Wohlfühl-Gefühl vermitteln können.“ Als Sammlerin und Behüterin alter Dinge sei ihr dies sehr wichtig.

Interessierte Reinbeker, die sich das Schau-Depot des Vereins ansehen wollen oder interessante Schätze der Vergangenheit vom Verein verwahrt wissen möchten, können sie am 3. Juni – wie jeden ersten Mittwoch im Monat – von 10 bis 12 Uhr im Offenen Museumskeller an der Klosterbergenschule, Klosterbergenstraße 77, treffen. „Dort ist es kein Problem, Abstand zu wahren, es gibt genug Platz“, erläutert Gisela Manzel. „Ich bin ohnehin dort, um zu arbeiten. Interessierte können spontan vorbeikommen.“

www.museumsverein-reinbek.de