Wentorf. Erstaufnahme DRK, Runder Tisch Asyl und viele weitere Freiwillige geben seit Wochen alles für Flüchtlinge
Sie lachen. Sie kichern. Und sie rufen immer wieder fröhlich „Hallo“! Das alles klingt wie Musik in den Ohren von Stephan Streubel. Genau für dieses Lachen, Kichern und Hallo der Flüchtlingskinder arbeitet der 32-jährige Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes seit Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung in Wentorf bis zum Umfallen. Er stand am Bus, als die ersten Flüchtlinge am 26. September vor der ehemaligen Sprachheilschule des Landes vorfuhren und er wird diesen Moment nie wieder vergessen.
„Als die Männer, Frauen und Kinder ausstiegen, war es ganz, ganz still. Den meisten sah man an, was sie in den vergangenen Wochen und Monaten durchgemacht haben. Wir waren an diesem Tag sehr viele Helfer und es gab niemanden, der bei diesem Anblick keine Tränen in den Augen hatte“, erinnert sich Einrichtungsleiter Streubel. Er arbeitet ehrenamtlich, wie die anderen zahlreichen Wentorfer, die seit Wochen nur ein Ziel haben: Die Flüchtlinge willkommen heißen, ihnen ein Zuhause auf Zeit bieten, sie wie Gäste behandeln und sie zur Ruhe kommen zu lassen.
Spielende Kinder im Park
Wer jetzt, sechs Wochen nach der Eröffnung der Einrichtung, durch den mittlerweile herbstlichen Park wandert, sieht, dass das gelungen scheint. Kleine Kinder fahren lächelnd mit dem Dreirad oder Fahrrad über die Wege. Sie haben feste Schuhe, kleine Jeanshosen und dicke Jacken an – alles Spenden von Wentorfern, die spontan die Kleiderschränke ihrer eigenen Kinder plünderten, binnen von Stunden Kinderbetten und Matratzen organisiert hatten und auch jetzt nicht müde werden, warme Kleidung für die vielen Familien zu spenden. Die kleine Kita über der Mensa, vom Runden Tisch Asyl auf die Beine gestellt, ist kindgerecht eingerichtet. Bücher, Lego, dicke Kuschelkissen, Puppen – die Wentorfer zeigten sich sehr spendabel.
Während die Jüngsten dort bestens von freiwilligen Helfern wie Ragna Marks und Katja Stolberg vom Runden Tisch betreut werden, spazieren ihre Eltern in kleinen Grüppchen durch die Anlage, unterhalten sich. Viele haben ein Mobiltelefon in den Händen – ihr Kontakt zu Verwandten und Freunden, die entweder noch in in ihrer Heimat oder auf der Flucht sind. Stephan Streubel weiß, dass auf den Handys auch viele Fotos aus ihrer Heimat gespeichert sind. Er hat viele angeschaut und sieht die Welt seitdem mit anderen Augen. „Ich kenne Bilder von zerstörten Häusern und toten Menschen aus den Nachrichten. Aber ich habe sie erst begriffen, als mir ein Syrer Fotos zeigte, die er selbst gemacht hat. Ich sah die gleichen zerstörten Häuser. Aber ich erfuhr, dass unter den Trümmern die Frau des Mannes begraben lag“, so der 32-Jährige.
Schicksale bewegen auch Profis
Er ist Rettungssanitäter und zugleich Fachkraft für akute Psychotraumatologie. Selbst ihm gelingt es nicht, die Schicksale der Flüchtlinge abends nicht mit nach Hause zu nehmen. Wie soll man es auch begreifen, dass nachts ein zwölfjähriger Junge vor den Toren der ehemaligen Sprachheilschule wartet – allein und barfuß? Ein Knirps, der seine ganze Familie auf der Flucht verloren und sich allein nach Wentorf durchgeschlagen hat? Der so hungrig ist, dass er binnen Minuten ein halbes Toastbrot verschlingt und dann in den Armen seines Onkels stundenlang weint.
Wie soll man unberührt bleiben, wenn vor dem Tor plötzlich zwei junge Mädchen stehen, die nach Monaten in Wentorf ihren Vater wiederfinden und dieser vor den Helfern des DRK vor Dankbarkeit auf die Knie fällt und nicht mehr aufhört zu weinen.
„Ich werde nie vergessen, wie ein vierjähriger Junge nach seiner Ankunft zuerst ganz schüchtern war und zwei Stunden später das erste Mal in seinem Leben einen Spielplatz kennenlernte. Er ist bestimmt 14, 15 Mal gerutscht und sein Lachen wurde immer lauter“, erzählt Dr. Frank Böttcher. Der Arzt des Krankenhauses St. Adolf-Stifts hat die Erstuntersuchung der rund 300 Flüchtlinge gemanaged, kümmert sich jetzt täglich weiter um die Menschen.
Wenn er über das Gelände geht, laufen ihm die Kinder fröhlich entgegen, viele Eltern grüßen mit einem fast akzentfreien „Guten Morgen“. Vielen Flüchtlingen war in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft schnell geholfen. „Andere kamen nur, um zu gucken, ob es uns Ärzte wirklich gibt. Sie konnten zuerst nicht glauben, dass wir auch morgen, übermorgen und nächste Woche für sie da sein werden, dass ihnen immer geholfen wird“, erzählt Böttcher.
Ähnliches können Streubel und sein engagiertes Team erzählen. In den ersten Tagen sei das Büffet regelrecht geplündert gewesen. „Die Menschen trauten dem Frieden nicht. Sie hatten Angst, nichts mehr zu essen zu bekommen, bunkerten die Nahrungsmittel. Erst nach vier, fünf Tagen hatten sie Vertrauen gefasst, wussten, dass sie sich immer satt essen können“, erzählt Streubel.
Einer, der dafür verantwortlich ist, ist Helmut Schöbel. Er hat für das Unternehmen „Vivanti“ das Catering übernommen. Zuvor hatte dies das DRK selbst gemacht, zusätzlich zur kompletten Versorgung der Menschen – von der Verteilung der Bettwäsche über die Ausgabe von Hygieneartikeln bis hin zur Organisation der Kleiderklammer.
Catering für 300 Menschen
Schon morgens gibt Schöbels Team 600 Brötchen aus. Ganz wichtig: Kaffee, Tee und ganz viel Zucker. Die Menschen aus den arabischen Ländern lieben ihre Getränke zuckersüß. „Unser Zulieferer hat jetzt mehrere syrische Köche eingestellt, die landestypisches Essen zubereiten werden. Essen ist schließlich auch ein Stück Heimat“, weiß der Profi. Besonders Abends geht es lebhaft zu in der Erstaufnahmeeinrichtung. „In ihren Heimatländern spielt sich das Leben nachts ab. Tagsüber ist es dort einfach zu warm“, hat Stephan Streubel festgestellt.
Morgens flitzen nur die Kinder Richtung Mensa. In den Räumen darüber ist seit Anfang letzter Woche ihr Klassenraum. Die Sieben- bis 14-Jährigen lernen Deutsch, verständigen sich mit Lehrer Wladimier Danilow mit Händen und Füßen. Englisch, Deutsch, Arabisch, sogar Russisch – irgendwie geht’s. Auch die Erwachsenen möchten schnell Deutsch lernen. 40 Flüchtlinge haben sich bei DRK-Mitarbeiterin Melina Mohn für den ersten Kursus angemeldet.
Deutschkurse, Fußballspiele, Häkelnachmittage für die Frauen, die Kita, das gute Essen, die Privatsphäre in den Zimmern, der große Park, die fürsorgliche Betreuung – all das und noch vieles mehr macht Wentorf wohl zu einer Vorzeigeeinrichtung. Und trotzdem, Heimweh heilt auch sie nicht. Jeden Tag kommt ein Mann zu Stephan Streubel und stellt die immergleiche Frage: „Gibt es Neuigkeiten? Ist der Krieg in Syrien vorbei?“