Reinbek. Ein Kaffee im Stehen, ein Brötchen im Vorübergehen und die Nachrichten in Häppchen aus dem Radio? Nicht bei Familie Müller. „Ein Frühstück kann bei uns schon mal locker eine Stunde dauern“, sagt Volker Müller, Fraktionsvorsitzender der SPD. Allein die morgendliche Lektüre unserer Zeitung kostet Zeit. Der Kommunalpolitiker ist stark sehbehindert, seine Frau liest ihm die Artikel vor.
In der vierten Klasse konnte ich plötzlich an der Tafel nichts mehr lesen. Ich hatte rund 97 Prozent meiner Sehkraft verloren“, erinnert sich der 61–Jährige. Das jedoch hat den Reinbeker nie davon abgehalten, seinen Lieblingsberuf als Erzieher zu ergreifen, eine Familie zu gründen, zu reisen und sich in der Kommunalpolitik zu engagieren – letzteres ein Hobby, das schon fast Berufung ist. Sein Vater, Mitarbeiter im Reinbeker Bauamt, habe ihn an die Politik herangeführt. Welche Bauvorhaben spruchreif sind, über welchen Plänen die Verantwortlichen gerade brüten, all das sei am Abendbrottisch Thema gewesen.
„Ich fände es großartig, wenn sich mehr Menschen mit Behinderung in der Politik engagieren würden. Doch viele trauen sich nicht, glauben, den Anforderungen nicht gewachsen zu sein“, hat er festgestellt. Dass vieles auch mit Handicap machbar ist, wenn man es nur will, beweist Müller nun schon seit 16 Jahren in der Stadtverordnetenversammlung. Deren Mitglieder müssen sich durch Anträge, Anfragen, Beschlussvorlagen, Haushalts- und Investitionspläne lesen und mit den neu gewonnenen Kenntnissen verantwortungsvolle Politik machen. Ein Berg von Arbeit für Müller, der nicht mal schnell eine Seite überfliegen kann. Fünf Zentimeter müssen die Buchstaben groß sein, damit er einzelne Wörter überhaupt lesen kann. In der Blindenschule am Borgweg in Hamburg hat er die Blindenschrift gelernt – diese Kenntnisse nützen ihm jedoch bei der politischen Arbeit rein gar nichts. Verwaltungsvorlagen sind eng bedruckt, klein geschrieben, zum Teil unübersichtlich und vor allen Dingen nicht in der für ihn lesbaren Punktschrift verfasst.
Dank moderner Technik arbeitet Müller dennoch jedes einzelne Blatt durch. „Verwaltungstexte lasse ich mir mit einem Screen Reader vorlesen“, erklärt der Vater zweier erwachsener Töchter und Großvater zweier Enkelkinder. Wenn er selbst lesen möchte, legt er die Texte unter eine Bildschirmlesekamera, die die Texte so vergrößert, dass immer nur wenige Wörter gleichzeitig auf dem Bildschirm erscheinen. Darüber hinaus unterstützen ihn die anderen Politiker, wie sie nur können. Parteikollege Thomas Unglaube liest ihm beispielsweise vor der wöchentlichen Fraktionssitzung wichtige Unterlagen vor, nimmt den sehbehinderten Reinbeker im Auto mit zu Sitzungen. „Wir kennen uns alle seit Jahren, meine Behinderung ist kein Thema“, freut sich der SPD-Fraktionsvorsitzende. Er beeindruckt mit einem Gedächtnis, das viele „unheimlich“ nennen. „Ich habe alles abrufbereit, kann sofort sagen, was wir wann beschlossen haben. Eine Fähigkeit, die man als fast blinder Mensch täglich trainiert.“
Erholung findet Müller im Wohnmobil. Drei bis vier Tage-Touren auf den Darß machen ihm besonders Spaß. Die Gegend erkundet er auf dem Tandem mit seiner Frau, Gerüche und Geräusche bringen ihm die Gegend näher. „Diese Art von Urlaub ist totale Freiheit für mich.“
Der Kommunalpolitiker, der mit straffälligen Jugendlichen gearbeitet hat, findet sich so gut im Leben zurecht, dass viele ihm seine Sehbehinderung nicht anmerken. „Ach, spielen Sie auch Golf?“, fragte ihn eine Dame, als sie an seinem Hemd ein blaues Schild mit weißem Männchen entdeckte, das einen Stock in der Hand hält. „Nein, ich bin blind“, antwortete Müller mit Blick auf das offizielle Blindenabzeichen. Über diese Situation muss er noch jetzt herzlich lachen.