Reinbek. Aus dem Transistorradio über der Theke rieselt leise Musik. “Stand by your Man“ haucht die Sängerin in die kleine Kneipe und konkurriert mit Knobelbechern, die laut auf Holztische knallen. Auf dem Fenster vor der roten Gardine wacht Bacchus über die Stammtischgemeinde.
Im gleichen Kirschbaumholz wie die großen gekreuzten Löffel, die die hellbraune Tapete zieren. Wer die 20 Quadratmeter am Haidkoppelweg betritt, fühlt sich auf dem Linoleumboden unvermittelt in die 70er-Jahre versetzt. Das "Gedeck" aus Bierflasche und Schnaps zur Zigarette gehört hier noch zur Grundausstattung eines jeden Gastes. Blinkende Spielautomaten und die Sparclubfächer sind ebenfalls obligatorisch. Genauso wie der "Kirchenschnaps", den Wirtin Herta Felst pünktlich um 12 Uhr jeden Sonntag ausschenkt. Nach der großen Runde setzt sie sich für eine Pause ruhig ans Ende des Tisches und trinkt ein Glas Apfelschorle.
Herta ist Chefin, Herz und Mutter der Wohnzimmer-Kneipe. Mit warmen dunklen Augen wacht sie über das Geschehen. "Nie hat es Ärger gegeben", sagt sie. Nach 30 Jahren ist sie mit 84 Jahren wohl Reinbeks älteste Wirtin. Ans Aufhören denkt sie nicht. Das würde ihr größter Fan Ingo Dittmann (46) auch nicht zulassen. "Herta muss weitermachen", sagt auch Peter Roos (56), der schon die Kinderkarre vor der Kneipe parkte, um ein Bier zu trinken, während sein Sohn auf den Holzbänken tobte.
Herta will weitermachen. Und sie muss. 500 Euro Rente minus 400 Euro für die private Krankenversicherung. Da bleibt nicht viel. "Aber ich habe mein Leben lang gearbeitet und könnte ohnehin nicht den ganzen Tag herumsitzen", sagt Herta. Klagen kommen nicht aus ihrem Mund. "Obwohl, die Gartenarbeit schaffe ich nicht mehr." In der Gaststätte geht ihr noch alles leicht von der Hand - vom Putzen bis zum Schnaps-Ausschenken. Beim Einkaufen hilft Enkelin Gabi (38), denn einen Führerschein hat die 85-Jähirge nie gehabt, obwohl ihr verstorbener Mann in Hamburg zwei Taxen laufen hatte. "Ich habe alles mit dem Bus erledigt", sagt sie. Auch nachdem sie im Haus 1969 einen Blumenladen eingerichtet hatte. 1979 eröffnete sie dann "Hertas Imbiss". Die leckeren Grillhähnchen, nach denen die Gäste immer noch fragen, drehen sich längst nicht mehr auf dem Spieß hinterm Tresen. "Das ist mir zuviel geworden", sagt sie.
Doch auch ohne Pommes, Currywurst und Hähnchen hält Hertas Fanclub die Treue: Knapp 20 Neuschönningstedter finden sich jeden Sonntag ein, um zu Knobeln, Karten zu kloppen oder die neusten Fußballergebnisse auszutauschen: "Die kleine Kneipe ist fast ein Wohnzimmer für uns geworden", sagt Bernd Paulutt (66), der seit 25 Jahren zum Frühschoppen kommt. Und auch Ingo Dittmann, einer der treuesten Gäste und Sparclubmitglied, wird morgen mit anstoßen, wenn Herta ihr 30. Jubiläum feiert. Und auch sie sieht ihre "Familie" gern: "Wenn ich montags und dienstags geschlossen habe, freue ich mich schon auf meine beiden Mittwochsstammgäste."