Reinbek. Der Buchumschlag zeigt eine geöffnete Gartenpforte an der Kückallee. Doch die schöne Aussicht trübt, denn die Erinnerungen des Autors führen nur äußerlich in ein Idyll. Dr. Detlev Landgrebe (73) verbindet mit diesem Pastellbild seines Großvaters Arthur Goldschmidt eine Kindheit am Rande des Holocaust.
Der Verlust der großelterlichen Villa 1941, die Verzweiflung und der psychische Verfall und Tod seiner Großmutter, die Ermordung und Deportation vieler seiner jüdischen Verwandten, die Angst als ständiger Begleiter seiner Kindheitsjahre, aber auch Beispiele von Hilfsbereitschaft prägten seine Reinbeker Jahre.
Das Buch "Kückallee 37" ist gleichermaßen eine umfangreiche Familienchronik der Goldschmidts, einer angesehenen großbürgerlichen Richterfamilie, die bis 1933 zur höheren Gesellschaft in Reinbek zählte. Die Familie mit jüdischen Wurzeln war zum evangelischen Glauben konvertiert, die Kinder christlich erzogen. Die wirren Rassengesetze der Nazis ließen sie dennoch zu Opfern werden. Auch Detlev Landgrebe als Sohn einer sogenannten " Mischehe" und sogenannter "Halbjude" war vor ihnen nicht sicher.
Wegen seiner jüdischen Frau Ilse flieht sein Vater, der Philosoph Ludwig Landgrebe, erst nach Prag, dann nach Belgien. Als beide Länder von den Nazis besetzt werden, kehrt er mit seiner Familie 1940 nach Reinbek an die Kückallee zurück. Detlev Landgrebes Großeltern mussten das Haus 1941 verkaufen. Als Juden durften sie kein Eigentum haben. Der Kaufmann Carl Dobbertin erwarb das Haus und ließ sie als Untermieter dort weiter wohnen. Die Eltern Landgrebes überlebten die Terrorjahre.
Zum Gedenken an seinen Großvater Arthur Goldschmidt hat Landgrebe als Anhang die "Geschichte der evangelischen Gemeinde Theresienstadt 1942-1945" veröffentlicht. 1942 wurde Arthur Goldschmidt ins Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er die evangelische Gemeinde gründete und als Pfarrer bis zur Befreiung leitete, bevor er nach Reinbek zurückkehrte.
* Detlef Landgrebe wird sein Buch am Sonntag, 22. Februar, 16 Uhr, bei einer Lesung im Schloss, Schlossstraße 5, vorstellen: "Kückallee 37" , ist 2009 im CMZ-Verlag erschienen, ISBN 078-3-87062-104-9, Preis: 24,80 Euro.
bz:
Sie beschreiben Ihre "Kindheit am Rande des Holocaust" in Reinbek. Was ist die für Sie wichtigste Stelle, die Sie auch jetzt emotional immer noch stark berührt?
Detlev Landgrebe:
Als meiner Großmutter 1941 die Nachricht überbracht wurde, dass die drohende Deportation noch einmal aufgeschoben wurde. Sie sank vor dem Gemeindepolizisten auf die Knie und umfasste ihn weinend. Den Anblick meiner vor Angst und Schrecken gedemütigten Großmutter werde ich nie vergessen.
Als Ihre Familie in ständiger Angst vor der Gestapo lebte, waren Sie erst sechs Jahre alt. Haben Sie das Ausmaß der Bedrohung verstanden?
Die Verfolgung hat mich schon sehr früh in die Rolle eines kleinen Erwachsenen schlüpfen lassen. Von den unvorstellbaren Verbrechen der Nazis haben damals aber weder ich noch meine Eltern und Großeltern gewusst.
Warum haben Sie sich die traumatischen Erinnerungen erst so spät von der Seele geschrieben?
Ich habe die Erlebnisse an die Nazizeit lange verdrängt und wollte nichts davon wissen. Etwa drei Jahre vor meiner Pensionierung habe ich mir gesagt, irgendetwas musst du machen, sonst geht es dir im Alter schlecht. Ich habe dann eine Therapie gemacht und begonnen, meine Erlebnisse und die Geschichte meiner Familie und die meiner Mutter aufzuschreiben.
Wenn Sie zurückblicken, verbinden Sie Reinbek mit einer Zufluchtsinsel, die Ihnen Sicherheit bot oder schmerzenden Erinnerungen?
Ich verbinde mit Reinbek die schlimmsten Jahre meiner Kindheit (von 1939 bis 1945) und auch die schönsten. Als im Mai 1945 die englischen Panzer über die Schönningstedter Straße rasselten, war ich so froh. Danach begannen unbeschwerte Jahre an der Kückallee.
Fühlen Sie sich heute noch als Reinbeker?
Ja, obwohl ich seit 40 Jahren in Blankenese lebe. Reinbek war immer etwas Besonderes und das auch in den Jahren der Verfolgung. Es gab zwar auch viele Nazis, aber irgendwie haben da keine Schweine herumgesessen, die meine Familie denunziert haben. Im Gegenteil, der ehemalige Bürgermeister Eduard Claußen (1885-1974) und der Kaufmann Carl Dobbertin haben ihre Kontakte und Verbindungen eingesetzt, um meine Großeltern und Mutter zu schützen.
Warum sind Sie im April 1945 der Hitlerjugend beigetreten?
Ich war zehn Jahre alt und wollte wie jedes Kind einfach nur dazugehören. Ich bin nicht in einem Klima des Widerstands groß geworden, sondern mit den Anpassungsmechanismen einer bürgerlichen Familie.
Sie beschreiben auch die Aufnahmezeremonie, an der heute noch in Reinbek lebende profilierte Persönlichkeiten führend beteiligt waren. Haben Sie vor Ihrer Veröffentlichung mit Ihnen gesprochen oder darüber nachgedacht?
Nein, heute bedauere ich es. Denn die beiden Jungens - die damaligen Fähnleinführer - haben mir nichts Böses getan. Sie hätten mich als "Halbjuden" ganz elend demütigen und meine Familie gefährden können. Das haben sie aber - aus welchen Gründen auch immer - nicht getan. Vor ein paar Jahren hatte ich noch Angst, sie anzusprechen. Jetzt würde ich es tun, wenn sich erneut eine Begegnung mit ihnen ergeben würde.