Oststeinbek. Oststeinbek. Vor 35 Jahren begegnet Ursula Nölle zum erstenmal afghanischen Flüchtlingskindern: eine Begegnung, die ihr Leben verändert hat.
Ursula Nölle ist als Ehrenvorsitzende des Verein Afghanistan-Schulen fast allen Oststeinbekern bekannt. Ihr ist es zu verdanken, dass mithilfe des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Nordosten von Afghanistan rund um Andkhoi, Kabul und Mashar-i-sharif 59 Schulen, zwei Frauenzentren und ein Ausbildungszentrum für Jungen und Mädchen entstanden sind sowie viele Lehrerfortbildungen angeboten werden. Und daher ist sie unter anderem mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt worden. „Stolz bin ich nicht“, sagt die 93-Jährige. „Aber ich bin froh, dass die Hilfe so gelungen ist.“ Auch, dass sie in ihrer einstigen Nachbarin Marga Flader eine fähige Nachfolgerin gefunden habe.
Begonnen hat alles, als Ursula Nölle als 58-Jährige mit ihren Töchtern Christine (damals 25) und Karen (33) im März 1983 nach Pakistan reiste. „Christine studierte Orientalistik an der Universität Berkeley in Kalifornien und hatte ein Stipendium für Lahore bekommen“, erzählt Ursula Nölle. Am Telefon lobte sie sie: „Fantastisch, ich habe schon die Landkarte studiert.“ Doch das habe ihre Tochter nicht gelten lassen, sie müsse schon hinkommen, um das beurteilen zu können. Und die Mutter ließ sich herausfordern.
Die Reise wird zum Abenteuer
„Mein Mann Hugo, von dem ich damals noch nicht getrennt war, fragte mich, ob ich wirklich allein diese Reise antreten wolle. Aber ich dachte, es ist einmal an der Zeit, etwas anderes zu machen, als nur Mutter von fünf Kindern zu sein.“ Ihre Tochter Karen begleitete sie. Dass diese eigentlich touristische Reise ihr Leben verändern sollte, war Ursula Nölle damals nicht klar. „Wir reisten zuerst in einem vornehmen Mercedes-Kleinbus“, erzählt sie. Doch als ihre Töchter verrieten, dass sie sonst mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Asien unterwegs waren – „wollte ich das auch. Es ist viel interessanter, Einheimischen zu begegnen.“
Fortan waren sie in Bussen unterwegs, wanderten im Himalaya, reisten schließlich nach Peschawar. Dass diese Stadt der Hauptumschlagsplatz für die Waffen der Mudschahedin war, wurde schnell klar: „An der Rezeption unseres Hotels standen überall Kalaschnikows herum“, berichtet Ursula Nölle. „Über den Stuhllehnen hingen Patronengürtel und man schob uns demonstrativ Drogen zu, die wir ignorierten.“ Obwohl sie und ihre Töchter in ihrem Zimmer das vierte Bett vor die Tür schoben, habe jemand versucht, einzudringen – ohne Erfolg. „Meine Tochter sprach zum Glück bereits perfekt Urdu und telefonierte am nächsten Tag demonstrativ mit einer Hilfsorganisation für die afghanischen Flüchtlingslager“, berichtet Ursula Nölle. „Fortan ließ man uns in Ruhe. Wir wurden von diesen amerikanischen Freunden eingeladen und lernten eine sehr ernste, junge Frau kennen.“ Diese unterrichtete gemeinsam mit ihrer Schwester Flüchtlingskinder. „Wir besuchten sie mehrmals. Die Mädchen, die sich so privilegiert fühlten, weil sie Lesen und Schreiben lernen durften, trieben mir die Tränen in die Augen.“
Begegnung im Flüchtlingslager
Schließlich folgten die Frauen der Einladung in ein Flüchtlingslager. „Das hat mich tief berührt“, sagt die 93-Jährige. „Die Frauen luden uns in ihre aufgeräumten Zelte zum Tee ein. Sie bettelten nicht und baten nicht um Hilfe: Sie hatten ihre Würde bewahrt.“ Den Lehrerinnen versprach Ursula Nölle nichts, sagte aber, sie werde alles tun, um sie zu unterstützen. „So habe ich es die ganze Zeit gehalten“, sagt sie. Ihre Töchter staunten, das hatten sie ihrer Mutter nicht zugetraut.
In den folgenden Jahren lernten sie sie noch besser kennen. Innerhalb von drei Monaten hatte Ursula Nölle 800 Mark an Spenden gesammelt und an die Hilfsorganisation in Pakistan geschickt. Noch im Herbst gründete sie ihren Verein, der 1984 anerkannt wurde. Zwei Jahre später, mithilfe der deutschen Botschaft in Afghanistan, errichtete sie das erste Lehmgebäude für eine Flüchtlingsschule. Bis 2002, solange die Taliban in Afghanistan waren, baute der Verein sieben Schulen in den pakistanischen Camps. Ab 1988, seit Abzug der Russen, fingen die Oststeinbeker auch in Afghanistan an, Schulen zu errichten. Regelmäßig besuchen sie jedes Jahr ihre Projekte.
www.afghanistan-schulen.de