Glinde. Das Dorf ist eine richtige Stadt geworden. Das hat Arkadiust Cekus am meisten erstaunt. “Vor 70 Jahren war Glinde noch ein Dorf“, erinnert sich der Pole. Mit wenigen Häusern und noch weniger Geschäften.
Einkaufen konnte Cekus in Glinde ohnehin nicht - denn weder hatte er Geld noch das Recht, die Geschäfte zu betreten. Cekus war Zwangsarbeiter im Glinder Kurbelwellenwerk, einer von etwa 3000 während des Zweiten Weltkrieges.
Unfreiwillig kam er im Februar 1942 zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder nach Hamburg. Cekus war damals gerade 16 Jahre alt. Die erste Zeit wohnten die beiden in der Boberger Gaststätte "Zur Fernsicht". Die gibt es heute nicht mehr. Den kleinen Bahnhof Boberg, von dem aus sie jeden Tag zur Arbeit in das Kurbelwellenwerk nach Glinde fuhren, hingegen schon. Den Bahnhof und die Produktionshallen - von acht stehen noch sieben - hat der Pole am Mittwoch wiedererkannt. Auf Einladung der Stadt Hamburg und in Zusammenarbeit mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist Arkadiust Cekus als 87-Jähriger zurückgekehrt und war sichtlich bewegt. Begleitet wurde er von seinem jüngeren Bruder, der ältere ist bereits gestorben.
In Zwölf-Stunden-Schichten, sechs Tage die Woche, arbeitete Arkadiust Cekus damals im Kurbelwellenwerk, erst als Hilfsarbeiter, dann als Schleifer. "Mit meinem Vorarbeiter Herrn Kollberg hatte ich Glück. Der hat mir viel gezeigt, ich habe viel gelernt", erinnert sich Cekus beim Empfang des Bürgermeisters Rainhard Zug im Rathaus.
Nur war die Arbeit sehr anstrengend. "Sonntags habe ich mich nur ausgeruht, um wieder zu Kräften zu kommen." Leicht war das nicht, denn das Essen war sehr schlecht. "Ich hatte immer nur Hunger, wollte wachsen", sagt er mit stockender Stimme. 250 Gramm Brot aus Holzspänen und Getreidehülsen für zwei Tage reichte dafür nicht aus.
Mit ihrer ersten Unterkunft in Boberg hatten die beiden Brüder noch "Glück". "Dort konnten wir uns frei bewegen." Mit der Freiheit war es ab 1944 vorbei: Sie mussten ins Lager Wiesenfeld in Glinde wechseln und wurden ständig bewacht. "Einmal habe ich es nicht mehr ausgehalten und wollte ein bisschen Freiheit schnuppern, ganz normale Menschen sehen. Ich habe das P - das stand für Pole - von meiner Jacke abgemacht und habe mich an den Wachen vorbei aus dem Lager geschlichen." Der Jugendliche ging in ein Geschäft, bis ihm einfiel: "Ich habe ja kein Geld."
Im Lager wurden zwischen den Zwangsarbeitern große Unterschiede gemacht. Während die aus den "Niederlanden fast wie Deutsche behandelt wurden", hatten es beispielsweise die "Ukrainer besonders schwer". Sie lebten in einem "Lager im Lager" - abgetrennt mit einem Zaun und streng bewacht. Umso größer war der Hass der ukrainischen Zwangsarbeiter auf die Deutschen nach der Befreiung im Mai 1945 durch die Engländer. "Alle Wachmänner waren - bis auf einen älteren - geflohen. Irgendwie hatten es die Ukrainer geschafft, sich mit Waffen aus dem Heereszeugamt einzudecken." Cekus bekam Angst. Nicht ganz unbegründet: Die Ukrainer erschossen den alten Wachmann. "Ich habe das nicht verstanden. Das war einer von den Guten", sagt er und schüttelt mit dem Kopf.
Er und sein Bruder wussten nach der Befreiung nicht, wohin sie gehen sollten. "In Polen wartete unsere Mutter, aber auch die sowjetische Armee, von der wir nichts Gutes gehört hatten." Sie spielten mit dem Gedanken, nach England auszuwandern. Am Ende entschieden sie sich für eine Rückkehr in ihre Heimat. Am 13. Dezember 1945 kamen sie in Stettin an. Fünf Jahre hatte Arkadiust Cekus seine Mutter, seinen jüngeren Bruder und seine Schwester nicht gesehen. Als er vor seiner Mutter stand, erkannte die ihren Sohn nicht wieder: "Ich bin als Kind fortgegangen und kam als junger Mann zurück."