Glinde. Luigi Gollo erinnert sich. An die Baracken, an einen Platz voller Erde, an Bombentrichter, an denen er und die anderen jeden Morgen vorbeiliefen. Zwei Wachen vor ihnen, zwei im Rücken. Der heute 88-jährige musste während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiter in Glinde schuften. Jetzt kehrte er zurück.

„Hier war die Wache, dort stand der Fahnenmast. Und da mussten wir uns alle aufstellen.“ Mit zitternder Hand tippt der 88-Jährige auf eine grün-schraffierte Fläche auf einer gezeichneten Landkarte. Luigi Gollo (88) hat kurzes, weiß-graues Haar, trägt eine Hose mit Bügelfalte. Er sagt das auf Italienisch. Er blickt auf, nickt, als seine Tochter übersetzt. Auf dem Tisch vor ihm liegen dicke Aktenordner, Dokumente, schwarz-weiße Fotografien und Lagepläne ausgebreitet. Das Lager findet er auf dem Plan sofort wieder. Seine dunklen Augen fahren über Bilder und Karten, die seine Tochter ihm zeigt. Manchmal weist er auf etwas, das er erkennt. Er hält sich im Hintergrund, spricht nur wenig.

Gollo ist zu Gast in Glinde, aber er war schon einmal dort vor fast 70 Jahren. Das erste Mal kam er nicht freiwillig. Der 88-Jährige ist einer von etwa 1000 Italienern, die man während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiter nach Glinde verschleppt hat. Nun, 67 Jahre nach seiner Befreiung, kehrt er zurück an den Ort seiner Gefangenschaft, um seine Vergangenheit wiederzufinden. Gemeinsam mit Stadtarchivar Dr. Carsten Walczok und Hobby-Historiker Heinz Juhre geht Gollo im Heimatmuseum in der Mühle auf Spurensuche, Tochter Rosanna Ricci und Enkelin Roberta Ricci sind als Dolmetscherinnen dabei.

Luigi Gollo kommt aus Garessio in der norditalienischen Region Piemont. Wie viele junge Männer aus seiner Gegend diente er während des Krieges als Gebirgsjäger. Italiener und Deutsche, zuerst Verbündete, wurden über Nacht zu Feinden. Am 12. September 1943 wurden der damals 21-Jährige und seine Kameraden von Wehrmachtssoldaten entwaffnet und gefesselt zu einem Hotel gebracht. Gollo erinnert sogar den Namen des Hotels: „Monte Pana“. Ein Stück Brot und ein Stück Speck habe man ihm gegeben. Dann sperrte man die gefangenen Soldaten in Waggons, die gen Norden fuhren. Sieben Tage habe die Fahrt gedauert, erzählt der 88-Jährige – sieben Tage Ungewissheit. Ziel: Bremervörde. Von dort aus ging es im November weiter nach Wiesenfeld.

Während des Zweiten Weltkriegs ließ die Firma Krupp auf dem heutigen Gelände der Firma Honeywell Kurbelwellen für Kriegsfahrzeuge bauen. Die Insassen des benachbarten Lagers Wiesenfeld zwang man, die Maschinenteile im nahen Kurbelwellenwerk zu schleifen und zu montieren. Luigi Gollo war einer von ihnen.

„Ich konnte damals eine Windmühle sehen“, erinnert sich der 88-Jährige. Die Kupfermühle ist eine Wassermühle, doch Gollo erinnert sich genau an große Flügel. „Sie meinen die Schönningstedter Mühle“, schlägt Heinz Juhre vor. Heute verdecken Wald und Gebäude die Sicht. Langsam taut der alte Mann auf. Noch immer wirkt er zurückhaltend, will jetzt aber mehr sehen. Gerrit Oswald (52), Mitarbeiter von Honeywell, die heute auf dem Werksgelände Bremsbeläge herstellt, ist ebenfalls dabei. Er schlägt eine Fahrt über das Gelände vor. Luigi Gollo will den Ort wiedersehen. In Halle zwei habe er gearbeitet, weiß er.

Auf dem Weg dorthin fahren sie durch die Straßen von Wiesenfeld, früher schlammige Wege im Lager. Die heutigen Wohnhäuser stehen exakt auf den Fundamenten der damaligen Baracken. Langsam steigt die Erinnerung in Gollo auf. Zwischen 2800 und 3200 Häftlinge hielt man im Lager gefangen. Zusammengepfercht schliefen sie, teils zwei Mann in einem Bett. Er erzählt von Erschießungen, die er selbst aber nicht mit ansehen musste. „Hier muss der Ausgang des Lagers gewesen sein“, sagt Oswald, als er aus der Eichloh auf den Holstenkamp abbiegt. „Si, si“, Gollo zeigt aus dem Fenster, „hier die Wache, da das Büro“.

Die Hallen auf dem Werksgelände haben dieselben Nummern wie früher, weiß Oswald. Eine Halle zwei gibt es nicht mehr. „Die Dächer waren flach“, sagt der 88-Jährige. Mit Sträuchern habe man sie gegen Bombenangriffe getarnt. Gollos Blick ist nun hellwach. „Da haben sie die Reparaturen gemacht“, er zeigt auf Halle sechs. Noch nach fast 70 Jahren erkennt er alles wieder, auch die alte grüne Farbe, die an einer der Türen durch das fahle Gelb schimmert.

Bis zu 250 Menschen arbeiteten damals in den Hallen, eine einzige Toilette gab es für alle. Geheizt wurde nie, im Winter sei der Boden oft glatt gewesen, erinnert sich Gollo. Sie hätten damals statt Strümpfen Lumpen um ihre Füße gewickelt – Kleider der toten Kameraden. Oswald fährt an den Resten eines Bunkers vorbei.

„Da durften wir nicht hinein, der Eingang wurde streng kontrolliert“, sagt Gollo, der viele Bombenangriffe erlebt hat. Im Oktober 1944 flogen britische Bomber Angriffe auf das Heereszeugamt nördlich des Lagers Wiesenfeld. Gollo erinnert sich, wie der Granatsplitter eines Irrläufers die Wand seiner Baracke durchschlug und ein Stück seines Hutes wegriss, der auf einem Brett lag. Der rote Gebirgsjäger-Hut mit der langen Feder, er hat ihn noch heute.

Gerrit Oswald lenkt den Wagen Richtung Ausfahrt. „Von hier hat man die Mühlenflügel gesehen“, ruft Gollo plötzlich. Sie bedeuten ihm offenbar viel, Oswald bringt ihn dorthin. Als die Briten am 3. Mai 1945 das Lager Wiesenfeld befreit hatten, suchten die Zwangsarbeiter in der Umgebung nach Essbarem. Gollo zog es zu den Lebensmitteln in der Mühle. Als er die Säcke im Innern durchsuchte, hörte er plötzlich Stimmen. In Panik sei er durch ein Fenster geflohen, erzählt er.

Heute ist die Mühle ein Restaurant. Luigi Gollo kann mit seinem Besuch dort ein Kapitel seines Lebens abschließen. Ist die Mühle für ihn ein Symbol der Freiheit? Erleichterung zeigt sich beim Hinausgehen auf seinem Gesicht, er lächelt sogar. Lange habe er seine Vergangenheit ruhen lassen, nun hat er sie wiederentdeckt. Seine Gefühle kann Gollo nicht in Worte fassen, dafür braucht er Zeit. Einen Wunsch hat er doch: ein Foto „seiner“ Mühle.