Bad Oldesloe. Forscher entwickeln ein Trainingsprogramm für Kinder und Senioren. Die BürgerStiftung Stormarn unterstützt das Projekt.

Antriebs- und Appetitlosigkeit, Schlaf- und Konzentrationsstörung, Interessensverlust, herabgesetztes Selbstvertrauen und das Gefühl, wertlos zu sein – jeder Fünfte in Deutschland im Alter über 65 Jahren zeigt Symptome einer Depression. Bei Bewohnern von Seniorenwohnheimen gilt dies sogar für bis zu 42 Prozent. Eine Psychotherapie kann helfen, aber weniger als jeder Dritte erhält sie. Lange Wartezeiten auf einen Therapieplatz und mangelnder Zugang machen die Hilfe schwer.

Eine Forschergruppe am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) entwickelte deshalb ein weltweit neues Angebot, das depressionsfördernden Denkmustern entgegenwirkt. Es basiert auf kognitiver Verhaltenstherapie und soll als offenes Gruppenangebot in verschiedenen Gesundheitsbereichen zum Einsatz kommen, darunter geriatrische Kliniken, Seniorenheime oder Ergotherapiepraxen.

Einstieg in das Trainingsprogramm ist jederzeit möglich

„Unser Fokus auf metakognitive Verzerrungen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen beitragen, ist neu“, sagt Prof. Steffen Moritz, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Neuropsychologie an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am UKE. „Wir setzen auf spielerische Weise bei Denkverzerrungen an, die die Wahrnehmung auf uns selbst, die Welt und unsere Zukunft trüben. Wir nehmen eine Vogelperspektive auf das eigene Denken ein, hinterfragen Denkmuster und erarbeiten Alternativen. Das wird auch als Metakognition bezeichnet – also das Denken über das Denken.“ Ergänzend dazu würden ungünstige Verhaltensweisen wie Grübeln oder sozialer Rückzug betrachtet.

Bei älteren Menschen seien Themen wie die Bewältigung von körperlichen Veränderungen, die Anpassung an neue soziale Rollen im Ruhestand, die Neudefinition von Werten, Einsamkeit oder der Umgang mit unabwendbaren Situationen Auslöser für eine Depression, so Dr. Brooke Viertel, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der MSH Medical School Hamburg und Psychologische Psychotherapeutin. Was zudem unterschätzt werde, sei die psychische Belastung bei Erkrankungen wie Krebs, chronischen Schmerzen oder neurologischen Problemen.

„Mit unserem Metakognitiven Training, kurz MKT-Silber, wollen wir die Versorgung von älteren Menschen mit Depression verbessern, Behandlungslücken verkleinern, die Wartezeit auf einen Einzeltherapieplatz verringern und nach erfolgter Therapie damit für eine Rückfallprophylaxe sorgen“, sagt Viertel, die gemeinsam mit Steffen Moritz und Prof. Lena Jelinek das Programm 2018 auf Basis eines bereits vorhandenen Metakognitiven Trainings entwickelt hat.

Rund 15 Institutionen nutzen das MKT-Silber bereits in der Hansestadt. Die kostenlosen und online verfügbaren Trainingsunterlagen in deutscher Sprache wurden knapp 5000-mal heruntergeladen (www.uke.de/mkt-silber).

Das Training besteht aus acht Modulen, eine Sitzung dauert 45 bis 60 Minuten und ist für drei bis acht Teilnehmende konzipiert. Ein Einstieg ins Programm ist jederzeit möglich.

Eine Besonderheit des Metakognitiven Trainings ist, dass neben Psychologen auch geschulte Pflegekräfte, Ergotherapeuten und sogenannte Gesundheitsbegleiter (ausgebildete ehemalige Patienten) die Gruppensitzungen anleiten können – Voraussetzung dafür ist eine Schulung, für die die Forscher neben Workshops ein E-Learning-Format vorsehen (www.uke.de/e-dmkt).

Bürger-Stiftung Stormarn finanziert Lernvideos und Übersetzungen

Angesichts knapper Kassen sind die UKE-Wissenschaftler auf Spenden angewiesen, um dieses Angebot bereitstellen und weiterentwickeln zu können.

Die Bürger-Stiftung Stormarn, unter deren Dach auch die Eheleute Schmöger-Stiftung organisiert ist, die sich zum Thema Depressionen engagiert, hat den Forschern 10.000 Euro für das MKT-Silber zur Verfügung gestellt. Von der Spende werden die Produktion von Lernvideos, in denen Therapiesitzungen nachgestellt werden, sowie die Übersetzung der Trainingsunterlagen in weitere Sprachen finanziert.

„Wir sind der Stiftung dankbar für die Förderung. Ohne ihre Unterstützung hätten wir die Videos nicht produzieren können, die uns helfen, das Training vom Elfenbeinturm der Wissenschaft in die Praxis zu bekommen“, sagt Steffen Moritz. Die Förderung sei zudem eine wichtige Anerkennung fürs Team.

„Die Arbeit der Forscher markiert einen weiteren wichtigen Schritt bei der Bekämpfung depressiver Erkrankungen“, sagt Ernst-Jürgen Gehrke, Vorstandsvorsitzender der Bürger-Stiftung Stormarn. „Das hat uns bei den Gesprächen mit Dr. Moritz und seinem Team überzeugt.“ Gehrke hatte sich im Vorwege der Entscheidung zusammen mit der Vize-Stiftungsratsvorsitzenden und ehemaligen Ahrensburger Bürgermeisterin Ursula Pepper über die Apps informiert.

Weitere 5000 Euro der Sparkassen-Stiftung Holstein und der Bürger-Stiftung Stormarn fließen in die Weiterentwicklung der neuen Selbsthilfe-Smartphone-App COGITO Kids. Diese beruht auf der bereits verfügbaren App COGITO (www.uke.de/cogito). Die App schickt Nutzern tägliche Übungen, die bei regelmäßiger Ausübung helfen, emotionale Probleme zu reduzieren.

Die Version für Erwachsene gibt es seit April 2021. Sie wurde bis jetzt in zwölf Sprachen übersetzt, darunter Portugiesisch, Türkisch, Arabisch, Farsi und Persisch. Gerade ist eine ukrainische Version in Arbeit. „Die App ist wie eine Zahnbürste für die Seele, nicht nur für akut Betroffene“, sagt Steffen Moritz. „Sie dient zur Begleitung der MKT-Programme, um erlernte Strategien zu verinnerlichen, aber auch zur Prävention. Ältere Patienten tun sich bei der Anwendung nicht schwerer als Jüngere“, so Moritz.

Das internationale Interesse an dem neuen UKE-Ansatz wächst stark

Die neue App COGITO Kids soll ab Ende dieses Jahres verfügbar sein. Für die Kinderversion, bei der Übungen in kurzen Geschichten vermittelt werden, arbeiten die Mediziner mit der Kinderbuchautorin Astrid Frank und der Illustratorin Mariana Ruiz Villareal zusammen. Später soll noch eine gesprochene Version hinzukommen für Kinder mit Leseschwäche.

Das Interesse am neuen Ansatz der Hamburger Psychiater und Psychologen ist groß. „Die meisten Therapeuten, die zu unseren Workshops kommen, stammen nicht aus Hamburg. Seit wir das Training auch auf Englisch anbieten, ist das internationale Interesse enorm gewachsen“, sagt Brooke Viertel.

„Wir haben Anfragen von Kollegen aus der Türkei, Portugal, Spanien, Chile und Argentinien. Eine Version des Metakognitiven Trainings wurde in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaften für Psychiatrie und Psychotherapie aufgenommen, aber zum Beispiel auch in die Empfehlungen der australischen Psychiater.“

Hausärzte sollten als erste Anlaufstelle auf das Angebot hinweisen

Eine Pilotstudie aus dem Jahr 2018 sowie eine kontrollierte Studie zum MKT-Silber wies einen Rückgang der depressiven Symptome bei den Teilnehmenden nach, die das Programm selbst als nützlichen Teil ihrer Behandlung empfanden.

„Wir wünschen uns, dass die Hausärzte, die meist die erste Anlaufstelle für Patienten mit seelischen Problemen sind, unser Angebot kennen und darauf hinweisen“, sagt Brooke Viertel.

Die Arbeitsgruppe Klinische Neuropsychologie hat noch viel vor: Das Metakognitive Training soll samt COGITO-App auch noch für Patienten mit chronischen Schmerzen und Schlafstörungen weiterentwickelt werden – wenn ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.

Ralph Klingel-Domdey, Vorstandsmitglied der Stormarner Stiftung, stellt mögliche weitere finanzielle Hilfen für das UKE-Team in Aussicht. Er sagt: „Dieses Thema hat leider in jüngerer Vergangenheit durch die Corona-Pandemie, durch den Krieg in der Ukraine und die Sorgen vieler wegen des Klimawandels so viel Fahrt aufgenommen, dass jedes effiziente Hilfsangebot gefragt ist. Etwaige neue Stifter, die sich unserer Dachorganisation in Bad Oldesloe anschließen wollen und noch über einen Stiftungszweck nachdenken, werden wir entsprechende Vorschläge unterbreiten.“