Hamburg/Tangstedt. Valeria Kolesnik (20) floh mit ihrer Tante und ihrem Cousin aus Charkiw. Sie hat ein Tagebuch über die Flucht geschrieben.
Ich heiße Valeria und bin 20 Jahre alt. Ich komme aus der Stadt Charkiw, die besonders schwer angegriffen wurde, sodass ich fliehen musste – zusammen mit meiner Tante Tetiana und meinem elfjährigen Cousin Maxim. Meine Eltern konnten nicht mitkommen. Meine Großmutter ist sehr krank, meine Mutter muss sich um sie kümmern. Es ist schwer ohne sie. Ich habe während meiner Flucht Notizen gemacht.
24. Februar: Der Morgen begann sehr schlecht. Ich hatte eine 24-Stunden-Schicht bei der Arbeit in einer Hausverwaltung und wachte durch schreckliche Explosionen auf. Ich werde nie vergessen, wie meine Hände in diesem Moment zitterten. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Um 7 Uhr morgens holte mich mein Vater mit dem Auto ab und brachte mich zu einer Schule, damit ich mich dort im Keller verstecke. Ich blieb sieben Tage dort. In denselben Kleidern, auf dem Kellerboden. Am Tag meiner Flucht wurde einen Kilometer von uns entfernt ein Gebäude in die Luft gesprengt. Ich hatte noch nie so viel Angst.
Flucht aus der Ukraine: "Wir fahren und beten"
2. März: Flucht nach Warschau im Auto. Sind drei Tage unterwegs. Wir schlafen nachts im Auto, irgendwo auf der Strecke, essen Hotdogs an einer Tankstelle. Überall Staus. Wir fahren und beten. Die Grenze überqueren wir zu Fuß. Sieben Stunden dauert es. Draußen sind es Minustemperaturen. Wir schleppen schwere Taschen, Tränen laufen über das Gesicht. Um uns herum überall Menschen, viele rennen, einige stürzen. Es ist die Hölle. Endlich in Warschau. Wir können bei meinem Cousin Nikita bleiben, der seit sieben Jahren hier lebt. Drei Tage Auszeit. Endlich ein Bett, endlich eine Dusche und Essen.
Der Weg nach Deutschland: Wir nehmen einen Zug um 4 Uhr morgens. Er ist total überfüllt. Es gibt nur Stehplätze. Kinder und Großmütter. Frauen kämpfen, beschimpfen sich. Ich bin schockiert von den Menschen.
"Während ich schreibe, muss ich weinen"
Ankunft in Hamburg: Tränen, noch mehr Tränen. Ich muss weinen, nicht aus Trauer, sondern weil mich die Menschen und ihre Freundlichkeit überwältigen. Ich kenne diese Menschen nicht, doch sie helfen mir. Ein Mädchen namens Anna hilft uns. Sie hat ein wunderbar freundliches Herz. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich mitten auf dem Bahnhof gesessen und wäre in Tränen ausgebrochen. Während ich schreibe, muss ich weinen. Ich muss an die Menschen denken, die in der Ukraine geblieben sind, die dort gestorben sind.
Der Neuanfang in Deutschland: Es war geistig und körperlich sehr anstrengend. Da ich die Sprache nicht kenne, ist es beängstigend, Menschen um Hilfe zu bitten. Wir wohnten in der Tangstedter Mühle. Bei der Ankunft war sofort klar, dass es sehr viele Kinder gab. Jeder hilft dem anderen. Wie eine große Familie. Jeden Tag bringen die Bewohner von Tangstedt jede Menge Obst, Süßigkeiten und Spiele für die Kinder mit.
Es gibt immer jemanden, mit dem man reden kann. Jeder Freiwillige ist für mich wie eine ältere Schwester oder ein Bruder. Ich verfolge die Nachrichten aus meiner Heimatstadt Charkiw mit Tränen in den Augen. Ich weiß nicht, ob mein Haus zerstört ist. Meine Mutter hat heute zwei Raketen durch den Himmel fliegen sehen. Ich bete zu Gott, dass es meinen Eltern gut geht und dass sie am Leben bleiben.
"Es ist so beängstigend – die Schreie, die Tränen, das Blut“
Ich kam nach Deutschland, ohne mich ein einziges Mal umziehen zu können. Ich werde nie den Moment vergessen, als Freiwillige Kleidung mitbrachten und ich ein T-Shirt in meiner Größe bekam. Als in diesem Moment die Glocken in der Kirche zu schlagen begannen, musste ich weinen.
Es war, als ob das Leben stehen geblieben wäre. Manchmal frage ich mich, warum meine Freunde am 3. März in Charkiw getötet wurden? Warum wurden wir gezwungen, unsere Häuser zu verlassen? Warum wurden kleine Kinder gezwungen, den Lärm von Kampfjets und Raketen zu hören?
Mein Leben hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Die Welt hat sich verändert. Natürlich möchte ich nach Hause gehen. Ich will zu meiner Mutter. Aber es ist so beängstigend: die Schreie und die Tränen und das Blut. Der Geruch von Schießpulver liegt in der Luft.
Flucht aus der Ukraine: "In Charkiw ist meine Seele geblieben"
Hier in Hamburg ist es friedlich. Alle Einwohner sind sehr freundlich zu uns. Manchmal weinen wir vor Freude. Wir weinen, weil sie so freundlich zu uns sind. Es ist schwer, sich besser zu fühlen, es ist schwer, sich zu entspannen, wenn die eigene Familie in der Ukraine ist.
Wir versuchen, unsere Sorgen vor den Kindern zu verbergen. Aber die Kinder verstehen alles. Natürlich möchte ich hier bleiben. Eine völlig andere Mentalität, die Menschen sind viel freundlicher. Das Leben ist anders. Aber dort, in Charkiw, ist meine Seele geblieben. Meine Seele, mein Herz und alle meine Gedanken sind dort. In der Ukraine. Zu Hause.