Glinde. Die Großeltern von Tennisprofi Eva Lys flüchteten aus der Ukraine. Mit im Gepäck waren neun Hunde.
Während Irina Moskaluk und ihr Mann Alexander Rabinovych ihren Seat Kombi am Straßenrand im Glinder Ortskern abstellen, blicken sie sich noch einmal an. So, als könnten sie es kaum begreifen, was sie da vor Augen haben - das Zuhause von ihrer Tochter Maria Lys, deren Ehemann Vladimir und den drei Enkelkindern Lisa, Eva und Isabella, die sie lange nicht gesehen haben.
Die Familie aus der Ukraine ist wieder zusammen. Rund eine Million Menschen sind schon gen Westen geflohen. Das Ehepaar Moskaluk/Rabinovych gehörte zu den Ersten, die sich auf den Weg machten. Jetzt ist die lange Reise zu einem glücklichen Abschluss gekommen.
Vladimir Lys, ein 46 Jahre alter Tennislehrer und vor 20 Jahren erfolgreicher Profi, Bundesliga-Crack und Daviscupspieler für sein Land, sieht seine Schwiegereltern vom Küchenfenster aus und eilt zur Haustür. Alle sind den Tränen nah. Man nimmt sich in den Arm und lässt einige Sekunden vergehen.
Eva Lys spielte beim Turnier in Kasachstan gegen eine Russin
Lys’ Töchter Lisa (24) und die siebenjährige Isabella kommen langsam dazu und fallen den Großeltern um den Hals. „Es ist so schön, dass euch nichts passiert ist, willkommen zu Hause“, sagen die beiden und strahlen. Maria Lys (43) und ihre Tochter Eva (20) fehlen noch: Sie sind in der kasachischen Hauptstadt Nur-Sultan (früher Astana), wo Tennisprofi Eva an zwei hoch dotierten Turnieren teilnahm. Die amtierende Deutsche Hallenmeisterin und 311. der WTA-Weltrangliste war noch bis vorgestern im Wettbewerb. Seit Beginn des Krieges spielte Eva in den blau-gelben Farben der Ukraine.
In der ersten Runde war ausgerechnet die Russin Ksenia Zaytseva ihre Gegnerin, die sie 7:5, 7:5 schlug. „Es gab viele merkwürdige Blicke unter den russischen Spielerinnen, die für mich sehr erschreckend waren“, sagte Eva Lys, die ihr Preisgeld der Organisation notleidender ukrainischer Kinder zukommen lassen will. Bei Tagestemperaturen von bis zu minus 15 Grad Celsius unternahmen Mutter und Tochter ausgedehnte Spaziergänge auf dem zugefrorenen Fluss Ischim, um die Köpfe freizubekommen.
Maria und Eva Lys waren voller Sorge
Maria und Eva Lys waren voller Sorge um das Schicksal ihrer Eltern und Großeltern. Sollten die wirklich die Flucht aus der umzingelten Heimatstadt Kiew riskieren? Gab es überhaupt eine Alternative?
Voller Ängste, aber trotzdem entschlossen stemmten sich Irina Moskaluk und Alexander Rabinovych dem Schicksal entgegen: Es gab nur diese eine Gelegenheit, um dem vom russischen Machthabers Wladimir Putin entfachten Krieg zu entgehen. „Wir wollten uns auf keinen Fall dem drohenden Schicksal beugen“, sagt der 69 Jahre alte Alexander Rabinovych und blickt dabei gedankenversunken zu Boden. „Wenn Menschen von einem Diktator wie Putin derartig denunziert werden und vor Bomben und Schüssen in Deckung gehen müssen, erzeugt das in einem nur noch Hass und Ohnmacht.“
Schwiegersohn Vladimir Lys, seit 20 Jahren in Deutschland, gab den entscheidenden Anstoß zur hastig organisierten Flucht aus der ukrainischen Metropole. „Ihr müsst weg, packt eure Sachen“, sagte der 46 Jahre alte Tennislehrer immer wieder bei den regelmäßigen Telefonaten. „Und besorgt euch bloß ausreichend Benzin.“ In einigen Stadtteilen hätten sich die Plünderungen durch russische Truppen gehäuft.
Irina Moskaluk züchtet West Highland White Terrier
Ein ungewöhnlicher Umstand und ein ungewöhnliches Hobby von Irina Moskaluk hat die Familie dabei noch bestärkt. Die 66-Jährige züchtet West Highland White Terrier und beschäftigt sich zu Hause mit Tier-Kinesiologie, bei der es auch um außergewöhnliche Methoden der Stressbewältigung für Tiere geht. „Die 2000 Kilometer lange Autofahrt über nicht gerade gut ausgebaute Straßen war wirklich Megastress für die Kleinen, die sich aber wacker geschlagen haben“, sagte Irina Moskaluk, die insgesamt neun der jungen Hunde im Wagen unterbringen musste. Die Tierbesitzerin ließ die derzeit etwa zweieinhalb Kilogramm schweren Welpen nach der Ankunft im Glinder Reihenhaus gleich im komplett umzäunten Garten herumtollen.
Eine Terrier-Hündin hatte ausgerechnet kurz vor dem Krieg sechs Welpen zur Welt gebracht. Ursprünglich wollte Irina Moskaluk den Hunden die Reise im Auto ersparen. „Da wir den gerade erst geborenen Tieren die ständigen Fußwege zum U-Bahn-Schutzschacht nicht zumuten wollten, haben wir uns schließlich zur Abreise entschlossen“, sagt sie.
Die Grenze zu Polen erreichten sie erst nach vier Tagen
Die Fahrt verlief zäh. Ständig habe es Staus gegeben. Das Ehepaar kam anfangs kaum vorwärts. Essen und Wasser wurden knapp. Zum Glück tauchten irgendwann ukrainische Helfer am Straßenrand auf, um die nötige Versorgung zu gewährleisten.
Dann, es muss am Montag so gegen 14 Uhr gewesen sein, kam endlich die erlösende Nachricht per SMS bei Vladimir Lys an. Die Schwiegereltern hatten es geschafft. Nach vier Tagen voller Ängste und Zweifel passierten sie mit ihrem Seat Kombi den ukrainischen Grenzort Krakowez und waren in Polen. 626 Kilometer lagen hinter ihnen, ein Kraftakt, der zwei Dinge erforderte: Mut und Überzeugung.
Noch knapp 24 Stunden verbrachte das Ehepaar zur Überbrückung in der Unterkunft einer polnischen Freundesgemeinschaft. Die Welpen erhielten endlich wieder ausreichend Futter, und die Menschen konnten neue Kräfte sammeln. Die letzte Etappe in den Kreis Stormarn verlief problemlos.
Rückflug sollte eigentlich erst am Sonntag sein
Der Rückflug von Maria und Eva Lys aus Nur-Sultan über Frankfurt nach Hamburg sollte eigentlich erst am kommenden Sonntag erfolgen. Doch sie fanden doch einen früheren Flug. Am heutigen Freitag um 9 Uhr holt Vladimir Lys sie in Fuhlsbüttel ab. Er ist beeindruckt: „Es ist einfach überwältigend, welche Unterstützung alle Ukrainer in ihrer schlimmsten Phase des Lebens erhalten.“ Maria Lys sagt es ganz klar: „Es ist von immenser Bedeutung, dass die Welt von dieser sinnlosen Menschenrechtsverletzung eines russischen Diktators erfährt.“
Auch wenn ihre Eltern jetzt gerettet sind, ist deren Zukunft ungewiss. Die Frage, ob sie jemals in die Heimat zurückkehren können, lässt sich derzeit nicht beantworten.