Stormarn. Im Vergleich zu vor zehn Jahren sind die Zahlen rasant gestiegen. Doch welche gesellschaftlichen Folgen hat diese Entwicklung?

Es ist ein Thema, das die Kirchen in Deutschland seit Jahren beschäftigt: Die Zahl der Kirchenaustritte steigen. Die aktuellen Missbrauchsskandale der katholischen Kirchen verstärken den Trend weiter. Auch in Stormarn haben die Kirchengemeinden mit schwindenden Mitgliederzahlen zu kämpfen. Das ergibt eine Anfrage an die Standesämter im Kreis.

Das Standesamt Ahrensburg, das auch für Großhansdorf und Siek zuständig ist, verzeichnet für das Jahr 2021 genau 435 Kirchenaustritte. Zehn Jahre zuvor, 2011, waren es in der etwa 35.000 Einwohner zählenden Stadt noch 287.

In Reinbek zehn Prozent weniger Kirchenmitglieder

Ähnlich sieht es in Reinbek aus. 453 Menschen traten 2021 aus der Kirche aus. Zehn Jahre zuvor hatten 307 Menschen der Kirche den Rücken gekehrt. Etwa 28.000 Menschen wohnen in Reinbek. Entsprechend ist auch die prozentuale Entwicklung der Menschen, die Mitglied in der Kirche sind, rückläufig: Vor zehn Jahren noch waren knapp 47 Prozent der Reinbeker Bevölkerung Mitglied einer Kirche, heute sind es nur noch 37 – mehr als 20 Prozent weniger.

In der Stadt Bargteheide, die etwa 16.000 Einwohner hat, traten im vergangenen Jahr 124 Menschen aus der Kirche aus, 2011 waren es 87 gewesen. In Bad Oldesloe mit etwa 25.000 Einwohnern waren 276 Austritte im Jahr 2021 zu verzeichnen, zehn Jahre zuvor 154.

Gemeinde Siek hat sieben Prozent Mitglieder verloren

Gründe für den Austritt müssen nicht angegeben werden. Es ist aber laut Kirchenaustrittsgesetz eine persönliche Austrittserklärung nötig. Sprich: Jeder, der diesen Schritt tun möchte, muss einen Termin beim Standesamt oder bei einem Notar vereinbaren. Mancherorts gibt es Wartezeiten. In Reinbek müssen Bürger bis zu zwei Wochen auf einen Termin warten. In Bargteheide, Ahrensburg und Bad Oldesloe können kurzfristig Termine angeboten werden. In Schleswig-Holstein beträgt die Austrittsgebühr 20 Euro.

Christian Schack, Pastor in der evangelischen Kirchengemeinde in Siek, sagt: „Kirchenaustritte sind kein neues Phänomen.“ Seit Jahrzehnten schwinden die Mitglieder, doch es gebe immer wieder Wellen, in denen besonders viele austreten. „Im Moment ist es der katholische Missbrauchsskandal. Das wirkt sich auch auf unsere Gemeinden vor Ort und auch auf die evangelische Kirche aus. Die Kirchengemeinde Siek hat von 2018 bis 2021 gut sieben Prozent ihrer Mitglieder verloren. Viele Menschen nehmen die Skandale zum Anlass, um nachzudenken: Warum bin ich eigentlich Mitglied?“

Solidargemeinschaft könnte sich auflösen

Doch was würde eigentlich passieren, wenn immer mehr Menschen aus der Kirche austreten? Schack: „Wenn die Entwicklung der Kirchenaustritte so weitergeht, mache ich mir Sorgen, dass sich die Solidargemeinschaft auflöst.“ Momentan werden die Einnahmen durch die Kirchensteuer gesammelt und auf die Kirchengemeinden verteilt. Es muss also nicht jede Gemeinde für sich selbst sorgen. Der Vorteil laut Schack: „Auch die Finanzierung von Gemeinden mit weniger wohlhabenden Menschen ist damit sichergestellt.“

Sollten die Einnahmen weiter sinken, drohe dieses System zusammenzubrechen. Das hätte wiederum Folgen. „Gerade in sozialen Brennpunkten ist kirchlich-soziale Arbeit besonders wichtig“, sagt Schack. Denn: „Kirche ist mehr als Gottesdienste und Abendmahl.“ Jugendtreffs, Seniorenarbeit, Beratungsangebote: Davon profitierten nicht nur Kirchenmitglieder, sondern die ganze Gesellschaft. Schack: „Wir sind für alle Menschen da. Jeder, der Hilfe braucht, kann zu uns kommen.“ Doch auch diese Angebote seien in Gefahr. Schack: „Wenn es so weitergeht, wird es ganz schöne Veränderungen geben. Das wird sich gesellschaftlich auswirken.“

Eine Krise ist immer auch eine Chance

Dennoch sagt der Pastor: „Eine Krise ist immer auch eine Chance. Wir müssen jetzt darüber nachdenken, was der Kern unserer Arbeit ist und wo wir uns verändern müssen.“ Die zentralen Aufgaben laut Schack sind: „Christliche Nächstenliebe leben und lehren, Menschen zusammenbringen und Gemeinschaft schaffen.“

Damit vor allem junge Menschen einen Zugang zur Kirche finden, müsse sie digitaler werden. „Außerdem müssen wir noch offener, noch einladender werden, mit Vorurteilen aufräumen und zeigen, dass wir für alle Menschen da sind. Bei uns ist kein Platz für Diskriminierung.“ Schack selbst blickt selbstkritisch auf das aktuelle Imageproblem der Kirche, das nicht nur eines der katholischen Kirche sei: „Auch wir haben unsere Geschichte. Da haben wir viel lernen müssen und müssen immer noch noch viel lernen.“

Wichtig ist Schack auch, darüber aufzuklären, was mit der Kirchensteuer passiert. „Manchmal sagen Menschen zu mir: Das geht doch alles in die Verwaltung. Das stimmt aber nicht“, sagt er. Um diese Aufklärungsarbeit zu leisten, hat die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) eine Broschüre zum Thema herausgegeben.

Kirchensteuer erfüllt vielfältige Zwecke

Darin wird erklärt, wie hoch die Kirchensteuer ist, wie sie berechnet wird und vor allem, was die Kirchensteuer möglich macht: Das sind nicht nur Gottesdienste, Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen, sondern eben auch Angebote, von denen alle Menschen der Gesellschaft profitieren – unabhängig davon, ob sie der Kirche angehören: Familienzentren, Flüchtlingsarbeit, Frauenarbeit, Obdachlosenhilfe, die Bahnhofsmission, Krankenhaus-, Gefängnis-, Telefon- und Notfallseelsorge, Angebote für Studierende und mehr.

Übrigens: „Ich erlebe es selten, dass Menschen, die aus der Kirche austreten wollen, das Gespräch mit mir suchen“, sagt Schack. Das findet der Pastor schade. „Ich will niemanden umstimmen, dessen Entscheidung feststeht. Aber ich bin immer offen für Dialog. Und ich glaube: Die Kirche ist besser als ihr Ruf.“