Ammersbek. In der Schule wurde Sonja Borowski als faul und dumm abgestempelt. Heute hat sie trotz Legasthenie einen Masterabschluss.

Es ist eine wahre Erfolgsgeschichte: Als Kind sagten die Lehrer zu Sonja Borowski, dass sie niemals richtig lesen und schreiben werde, dass sie nicht einmal ihren Förderschulabschluss schaffen werde. Heute hat die 29-Jährige einen Masterabschluss in der Tasche, ein Buch herausgegeben und sie engagiert sich für Menschen, die an einer Lese-Rechtschreibschwäche leiden – so wie sie selbst auch. Sonja Borowski ist ein Mensch mit Legasthenie. Legasthenikerin nennt sie sich und andere nicht. „Ich finde es wichtig zu betonen, dass das nur ein Teil eines Menschen ist, aber ihn nicht definiert“, sagt sie.

Alltag Betroffener oft stark beeinträchtigt

Menschen mit Legasthenie sind in ihrer Lese- und Rechtschreibfähigkeit beeinträchtigt. Das Defizit hat nichts mit einer geringen Intelligenz oder mangelhafter Schulbildung zu tun. Ursachen liegen möglicherweise in genetischen Faktoren. Betroffene haben Probleme, Buchstaben, Wörter und Sätze zu lesen, zu schreiben und wiederzugeben.

Das beeinträchtigt den Alltag meist stark. In der Schule brauchen sie mehr Zeit für Aufgaben. Das Lesen einer Speisekarte wird zur Hürde, oft werden Wunschausbildungen oder ein Studium gemieden. Mehr als drei Prozent der Bevölkerung sind betroffen, in Deutschland etwa jeder 30. Mensch – also durchschnittlich einer in jeder Schulklasse.

Lehrer wussten nicht mit ihr umzugehen

Sonja Borowski spürte bereits in der Grundschule in Ohlstedt, dass bei ihr etwas anders ist. „Den Lehrern fiel auf, dass ich Probleme beim Lesen und Schreiben hatte. Meine Diktate waren voller Fehler, ich konnte nicht flüssig lesen“, so die Ammersbekerin. „Damit wussten sie nicht umzugehen. Weil ich in der Schule langsamer war als die anderen Kinder, wurde ich in einen anderen Raum gesetzt, damit ich den Unterricht nicht störe.“

Auch auf das Verhältnis zu Klassenkameraden wirkte sich die Lese-Rechtschreibschwäche aus. Sie wurde Opfer von Mobbing – was bei Legasthenie nicht selten der Fall ist, oft noch mehr am Selbstvertrauen nagt. Borowski: „Ich wurde als doof und faul abgestempelt. Die anderen Kinder lachten mich aus und ärgerten mich.“ In der vierten Klasse wurde es so schlimm, dass sie körperlich auf das Mobbing reagierte. „Ich konnte keine Kleidung mehr am Körper tragen, alles hat gejuckt.“

Ihr Eltern haben sich für sie stark gemacht

Glücklicherweise, sagt die gebürtige Hamburgerin, haben sich ihre Eltern auf den Weg gemacht, um ihrer Tochter zu helfen. „Ich hatte ein sehr herzliches Elternhaus.“ Ein Kinderarzt verwies sie an eine Lerntherapeutin, die die Diagnose stellte. Ab der dritten Klasse ging Sonja Borowski zur Lerntherapie, die sie beim Umgang mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen unterstützte, Spiele und Übungen machte, die sie abends mit ihren Eltern wiederholte – ohne Druck. Das habe die Weichen dafür gestellt, dass sie heute so gut mit dem Defizit umgehen könne. „Dass ich studieren konnte, verdanke ich der Therapie – und meinen Eltern, die immer an mich geglaubt haben.“

Was sie bedauerlich findet: „Meine Eltern mussten die Therapie aus eigener Tasche bezahlen. Eine Stunde hat 60 Euro gekostet. Die Krankenkasse übernahm die Kosten nicht. Ich finde es nicht richtig, dass eine Förderung davon abhängt, wie viel die Eltern verdienen“, so die 29-Jährige. Möglichkeiten der Unterstützung gebe es heutzutage zwar, wenn man nachweisen könne, dass die finanziellen Mittel fehlen. Das sei aber oft ein weiter Weg.

Auf der Sprachheilschule wurde es besser

Mitte der vierten Klasse entschied die Lerntherapeutin, dass Sonja Borowski die Schule wechseln soll. „Als Kind wollte ich das nicht“, sagt Borowski. „Rückblickend war das die beste Entscheidung, die wir hätten treffen können.“ Auf der Sprachheilschule ging es bergauf. Die Klassen waren kleiner, die Lehrer ausgebildete Sonderpädagogen. Für die 5. Klasse hatte sie eine Empfehlung fürs Gymnasium. Weil sie dort aber eine zweite Fremdsprache hätte lernen müssen und ihr das besonders schwer fiel, blieb sie auf der Sprachheilschule, machte dort den Realschulabschluss.

Während dieser Zeit begann Sonja Borowski sich zu engagieren. „Ich war erst Schulsprecherin, bin dann in der 10. Klasse in den Kreisschülerrat Sonderschulen und schließlich in die SchülerInnenkammer gegangen“, sagt sie. In der Schülervertretung der Stadt Hamburg hat sie Sonderschülern eine Stimme gegeben. Halbjährlich hat sie Foren für Sonder- und Förderschüler organisiert. Dort hat sie mit den Teilnehmern Forderungen aufgestellt und dem Schulsenator vorgetragen. Damals habe sie gemerkt, wie viel Freude es ihr bereite, sich für andere einzusetzen.

Selbsthilfegruppe für Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie

Nach ihrem Realschulabschluss absolvierte sie eine schulische Ausbildung zur sozialpädagogischen Assistentin, an deren Ende das Fachabitur stand. „Ich wusste schon in der 5. Klasse, dass ich studieren möchte, aber auch, dass ich das Abitur wegen der Fremdsprachen nicht schaffen würde.“ Aber: Was nicht passt, wird passend gemacht. Das Fachabitur öffnete die Türen zum Studium. Davor ging es aber erst einmal nach Südafrika, wo sie in den Townships ein Freiwilliges soziales Jahr absolvierte. In Kiel studierte sie Soziale Arbeit und gründete eine bundesweite Selbsthilfegruppe für Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie. Dyskalkulie ist eine Rechenschwäche, die Fertigkeiten wie Addieren oder Subtrahieren beeinträchtigt. Betroffenen fällt das Ablesen der Uhr oder Kopfrechnen schwer. Alle sechs Monate haben sich die Mitglieder der Gruppe getroffen und ausgetauscht.

Den Bachelor schloss sie mit „Sehr gut“ ab

Aus einem Workshop ist die Idee entstanden, ein Buch herauszugeben, in dem Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie Einblicke in ihr Leben geben. 161 Exemplare wurden bis jetzt verkauft, in Bibliotheken ist es ausleihbar. „Es soll Betroffene motivieren, nicht aufzugeben und auch nach außen hin aufklären“, sagt sie. Letzteres sei ihr wichtig, weil immer noch viel Unwissenheit herrsche. Im Studium musste sie immer wieder für ihre Rechte einstehen, kämpfte für einen Nachteilsausgleich. Borowski: „Sogar die Behindertenbeauftragte hat gesagt, ich solle doch einfach noch ein bisschen üben. Das von so einer Person zu hören, ist schon hart.“

Kurz vor dem Ende ihres Bachelorstudiums hat sie die Leitung der Gruppe abgegeben, weil das Thema zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so präsent in ihrem Leben war. Heute spricht man bei ihr nur noch von Restsymptomen. Den Bachelor schloss sie mit „Sehr gut“ ab, hängte noch einen Master in „Forschung, Entwicklung und Management“ dran. Momentan absolviert sie ihr Anerkennungsjahr als Sozialpädagogin in einer Schule, lebt mit ihrem Mann und ihrem dreijährigen Sohn in Ammersbek. Auf ihrem Instagramkanal „Smallestfootprint“ spricht sie offen über ihr Leben mit Legasthenie.

Mobbing in der Kindheit hat Spuren hinterlassen

Doch so erfolgreich ihr Lebensweg sich auch liest, vor allem das Mobbing in der Kindheit hat Spuren hinterlassen. Borowski: „In Stresssituationen juckt mein Körper noch heute.“ Etwas nicht zu können, was in der Gesellschaft als selbstverständlich vorausgesetzt wird, sei schwer. „Als Kind hat mich das wahnsinnig traurig gemacht“, sagt sie. Umso wichtiger ist es ihr, sich für Menschen mit Legasthenie stark zu machen, Dialog zu schaffen. Borowski: „Mein großes Ziel ist, dass die Gesellschaft anerkennt, dass wir unterschiedlich sind. Das ist gelebte Inklusion.“ Ganz nach dem Motto ihres Buches, das ein Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ist: „Es ist normal, verschieden zu sein.“