Bad Oldesloe. Bürger sind dazu aufgerufen, ihre persönlichen Erlebnisse und Eindrücke zu schildern. Die Beiträge werden für die Nachwelt archiviert.
Für Hans-Jörg Steglich hat die Corona-Krise trotz Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln positive Effekte auf das Sozialleben. „Wir sind in der Familie viel enger zusammengerückt“, sagt der 52-Jährige. „Wir versuchen, uns gegenseitig dabei zu helfen, die besondere Situation zu überstehen.“ Zum Beispiel mit Einkäufen für die eigenen Eltern, die im Rentenalter seien und zur Risikogruppe gehörten.
Besucher können die Beiträge einsehen
Seine Empfindungen hat der Familienvater nun für die Nachwelt von einer Kamera festhalten lassen – in der neuen Videobox vor dem Kultur- und Bildungszentrum (KuB) in Bad Oldesloe. Dessen Leiterin Inken Kautter hat das Projekt mit Stadtarchivarin Celina Höffgen initiiert. Ziel ist es, möglichst viele Augenzeugenberichte über die Corona-Zeit zu sammeln, um die Geschichte auf diese Weise zu dokumentieren. Bürger haben 60 Sekunden Zeit, um vor laufender Kamera über ihre persönlichen Corona-Erlebnisse zu berichten – ganz frei und ohne vorgegebene Fragen. „Oral History“ nennt sich diese Methode der Geschichtswissenschaft, in der Zeitzeugen einfach sprechen dürfen.
Die Beiträge werden anschließend archiviert, können später von Besuchern eingesehen oder auch für Dokumentarfilme verwendet werden. Dafür müssen die Teilnehmer eine Einverständniserklärung unterschreiben. Mitmachen können alle Menschen, die einen Bezug zu Bad Oldesloe haben. Sie müssen aber keine Einwohner der Kreisstadt sein.
Die Video-Box steht vor dem Kultur- und Bildungszentrum
„Vielleicht werden wir das Material in ein paar Jahren für eine Ausstellung nutzen, um zu zeigen, was Corona damals mit den Menschen gemacht und wie das Virus die Stadt Bad Oldesloe verändert hat“, sagt Celina Höffgen. Die 30-Jährige ist erst seit April in Bad Oldesloe tätig, hat die Stelle als Stadtarchivarin mitten in der Corona-Krise angetreten.
Die Video-Box steht jeden Mittwoch während des Wochenmarktes von 9 bis 12 Uhr vor dem Kultur- und Bildungszentrum am Beer-Yaacov-Weg – vorerst bis Ende Juli. Dann wollen die Initiatoren über neue Standorte nachdenken. „Wir stellen die mobile Box auch gern Gruppen zur Verfügung, zum Beispiel Schulen oder Einrichtungen wie Altenheimen“, sagt Kautter. Anmeldungen dafür nimmt das Kulturbüro unter Telefon 04531/504–195 oder auch per E-Mail an kulturbuero@badoldesloe.de entgegen.
Unterschiedliche Wahrnehmungen seien spannend
„Im Internet entstehen viele digitale Erinnerungen an die Corona-Zeit“, sagt Kautter. „Aber sie stammen überwiegend von 20- bis 40-Jährigen.“ Ziel der Oldesloer Aktion sei es, Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Und das funktioniere bislang gut: So seien bereits Grundschüler in der Video-Box gewesen, aber auch über 80-Jährige.
Es sei spannend, die unterschiedlichen Sichtweisen und Wahrnehmungen zu hören, sagt Kautter. „Die Kinder erzählen vor allem von schönen Ausflügen in die Natur, die sie unternommen haben. Für sie hat die Zeit durch Corona stillgestanden.“ Einige hätten auch berichtet, ihren Großvater zu vermissen, den sie wegen der Pandemie nicht sehen dürften. Für Berufstätige stehe häufig der Druck im Fokus, Arbeit und Familie in Zeiten von Homeoffice und Homeschooling unter einen Hut zu bekommen. Ältere Menschen beschäftige vor allem die Angst vor einer Ansteckung und die Isolation, sagt Höffgen. „Ihnen fehlen soziale Kontakte.“ Zudem hätten vielen Senioren die geschlossenen Cafés zu schaffen gemacht.
Die Videobox wurde speziell für das Vorhaben gebaut
Aus Jochen Caesars Bericht ist Dankbarkeit herauszuhören. Der 81-Jährige erzählt vor der Kamera mit Begeisterung davon, wie Nachbarn seiner Frau und ihm bis heute mit den Einkäufen helfen, „weil wir doch zur Hochrisikogruppe gehören“. Und er erzählt von seinen drei Kindern, die seit Beginn der Pandemie fast täglich anriefen. „Meine Tochter hat eine Corona-Erkrankung durchgemacht und sagt nun immer, dass wir auf uns aufpassen sollen“, so der pensionierte Pastor. Gern erinnere er sich an das Balkonsingen vor Ostern, als Anwohner seiner und umliegender Straßen gemeinsam Lieder wie „Der Mond ist aufgegangen“ sangen.
Stefan Jansen bewegt die unsichere Zukunft. „Bekommen wir noch eine zweite Infektionswelle? Und wie werden sich die Menschen dann verhalten?“, fragt der 42-Jährige. Er arbeitet eigentlich als Hausmeister in Bad Oldesloe, übernimmt derzeit aber auch den Blumenverkauf für eine Marktbeschickerin, die bereits 85 Jahre alt ist und sich der Corona-Gefahr nicht aussetzen möchte.
Ursprung der Projektidee sei Suche nach „kontaktarmer Kunst“
Auch innerhalb von Familien wird die Situation ganz unterschiedlich wahrgenommen, wie die Videoschnipsel belegen. Hans-Jörg Steglich beispielsweise hat sich gemeinsam mit seiner Tochter vor die Kamera gesetzt. Die 14-Jährige beschäftigt vor allem die „seltsame Schulsituation“. Anjali besucht die neunte Klasse der Schule am Masurenweg. „Ich bin nur einmal pro Woche für vier Stunden dort, die meisten Aufgaben bekommen wir per Mail“, sagt sie. „Wenn man ein Thema nicht versteht, ist es schwierig, allein zu arbeiten.“ Zum Glück habe sie zwei ältere Schwestern, die ihr helfen könnten.
Ursprung der Projektidee sei die Suche nach „kontaktarmer Kunst“ in der Corona-Zeit gewesen, sagt Kautter. „Da sind wir relativ schnell auf eine Videobox gekommen.“ Sie wurde speziell für das Vorhaben angefertigt. Die Oldesloer Kulturchefin sagt: „Nach Corona werden wir sie für andere Veranstaltungen nutzen.“
Das Kultur- und Bildungszentrum ruft Bürger unter dem Motto „Leben in anderen Zeiten?“ auch dazu auf, ihre Prognosen aufzuschreiben, wie sich die Gesellschaft durch Corona verändern wird. Alle Schriftstücke (Abgabeort: KuB-Briefkasten) werden in einer Zeitkapsel verschlossen und erst am 2. September 2030 vorgelesen.