Reinbek/Lübeck. Vier Männer sollen mit brutalen Methoden die örtlichen Kleindealer verdrängt oder zur Arbeit für sich gezwungen haben.
„Du kommst da nie wieder raus“, hätten sie ihm gesagt. „Da wusste ich, dass es keinen Ausweg mehr gibt, dass ich zur Polizei gehen muss“, erzählt der junge Mann vor der Großen Strafkammer des Landgerichts Lübeck hektisch und spricht von „Psychoterror“. Wie auch ein weiterer Zeuge wird der Wohltorfer von Polizeibeamten in einem Streifenwagen zum Gericht gefahren, aus Angst vor Rache. Er sagt: „Sie haben mir gedroht, sie hätten Freunde und ich wisse, was passiert, wenn sie verhaftet würden.“
Angeklagte kommen aus Reinbek, Aumühle, Wentorf und Hamburg
Es ist der Auftakt im Verfahren gegen vier Männer aus Reinbek, Aumühle, Wentorf und Hamburg, denen die Staatsanwaltschaft bandenmäßiges Handeln mit Betäubungsmitteln, Nötigung, räuberische Erpressung, Raub, Körperverletzung und Diebstahl vorwirft. „Die Angeklagten sollen sich zusammengeschlossen haben, um den Betäubungsmittelmarkt in Reinbek zu übernehmen“, heißt es in der Anklageschrift. 29 Taten zwischen 2017 und Juni 2019 sollen die Männer im Alter von 21, 22, 24 und 27 Jahren begangen haben, von denen drei neben der deutschen auch die russische Staatsbürgerschaft besitzen.
Hauptangeklagter wird in Handschellen in den Gerichtssaal geführt
Der Hauptangeklagte, der 21 Jahre alte Pjotr V. (Name geändert), wird in Handschellen in den Gerichtssaal geführt. Er sitzt in der Justizvollzugsanstalt Lübeck in Untersuchungshaft. Die schwarzen Haare hat er zu einem Dutt nach hinten gebunden, hin und wieder lächelt er ironisch. Alle vier Angeklagten äußern sich nicht zu den Vorwürfen.
Anklage: Wer sich weigerte, Schutzgeld zu zahlen, wurde verprügelt
„Um das Monopol über den Drogenverkauf im Reinbeker Raum zu erlangen, haben die Angeklagten bekannte Drogendealer unter Gewaltandrohung dazu gezwungen, in ihrem Auftrag Marihuana zu verkaufen“, sagt Staatsanwalt Kai Bergfeld. Außerdem sollen die Männer von ihren Opfern mehrfach vierstellige Beträge als Schutzgeld gefordert haben. Personen, die sich weigerten, die Drogen zu verkaufen, oder denen das nicht in einer gesetzten Frist gelang, hätten die Angeklagten attackiert und zusammengeschlagen. Bergfeld: „Außerdem wurden zwei Geschädigte gezwungen, in einem Hamburger Telefonshop einen Handyvertrag auf ihren Namen abzuschließen, dessen Leistung der Hauptangeklagte beziehen wollte.“
Verteidiger wollen Verfahren aussetzen lassen, Gericht lehnt ab
Noch bevor das erste Opfer gehört werden kann, kommt es zum Paukenschlag: Pjotr V.s Verteidiger, die Rechtsanwälte Cornelius Diedrich und Mathias Huse, wollen das Verfahren aussetzen lassen. Begründung: Die Akte sei mangelhaft geführt worden, weil anhängige Verfahren gegen einige der Opfer nicht vollumfänglich beigefügt worden seien.
„Das ist für uns entscheidend, weil die Polizei gegen sie ebenfalls wegen Handels mit Betäubungsmitteln ermittelt hat und sie möglicherweise ein Motiv haben, unseren Mandanten zu belasten“, sagt Huse. Zudem habe die Vorsitzende Richterin, Helga von Lukowicz, die von der Verteidigung beantragte ergänzende Akteneinsicht abgelehnt. Huse: „Das lässt den Eindruck entstehen, die Vorsitzende hätte sich bereits auf eine Schuld der Angeklagten festgelegt.“
Richterin und Anwälte liefern sich ein heftiges Wortgefecht
Von Lukowicz weist das zurück, sagt: „Sie haben vollumfängliche Einsicht in alle Akten bekommen, die dem Gericht vorliegen.“ Wie die Ermittlungsakte geführt werde, sei Sache von Staatsanwaltschaft und Polizei. Nach Beratung lehnt die Kammer den Antrag auf Verfahrensaussetzung ab. Es kommt zum heftigen Wortgefecht zwischen der Vorsitzenden Richterin und den Verteidigern, an deren Ende Huse einen Befangenheitsantrag gegen von Lukowicz ins Spiel bringt, dann aber darauf verzichtet.
Opfer gibt vor Gericht den Handel mit Marihuana zu
Die Angeklagten verfolgen die Auseinandersetzung amüsiert. V. zwinkert seinen Mitangeklagten zu. Schließlich beginnt das Gericht mit der Vernehmung des ersten Zeugen, des Wohltorfer Dealers. „Ich habe Marihuana verkauft, das geb ich zu“, beginnt er sichtlich nervös. „Vor etwa eineinhalb Jahren habe ich eine WhatsApp-Nachricht von Pjotr bekommen, der vorgegeben hat, bei mir Gras kaufen zu wollen“, erzählt der Zeuge aufgewühlt. Immer wieder muss die Vorsitzende Richterin ihn unterbrechen, nachfragen.
Wohltorfer lehnte Drogenverkauf ab – dann gab es Schläge
„Ich kannte Pjotr nicht, keine Ahnung, wie er an meine Nummer gekommen ist“, sagt der Wohltorfer. Die beiden hätten ein Treffen vereinbart, zu dem V. zwei der Mitangeklagten sowie einen unbekannten Mann mitgebracht habe. „Sie haben mich aufgefordert, für sie Gras zu verkaufen, das sie mir liefern würden, ich habe abgelehnt“, erinnert sich der Zeuge. Da hätten die Männer ihm gedroht. „Du weißt, was dann passiert“, hätten sie gesagt. Sie hätten Geld gefordert, als Strafe dafür, dass er in ihrem Gebiet verkaufe. „Sie haben mich gezwungen, mit Pjotr in meine Wohnung zu gehen, dort 800 Euro mitgenommen“, sagt der junge Mann aufgebracht.
Aus Angst schaltete eines der Opfer die Polizei ein
Wenige Tage später seien die Männer wiedergekommen, diesmal in Begleitung des 27 Jahre alten vierten Angeklagten, den sie als Auftraggeber vorstellten. „Sie haben eine Sporttasche mit Marihuana in meiner Wohnung deponiert, 50 Gramm sollte ich bis zum Mittag des nächsten Tages verkaufen und 400 Euro verdienen.“ Aus Angst habe er eingewilligt. Als ihm der Verkauf nicht gelungen sei, habe er sein eigenes Gehalt zum Erlös dazugelegt. „Ich habe gehofft, damit bin ich raus“, sagt der Wohltorfer.
„Tage später haben sie mich erneut kontaktiert, erschienen plötzlich vor meinem Fenster.“ Schließlich habe er eine weitere Forderung über 400 Euro an die Angeklagten gezahlt, sei dann aus Wohltorf geflohen, „um unterzutauchen“. Als der junge Mann drei Wochen später zurückkehrte, um sich mit einem Freund zu treffen, hätten sie auch diesem gedroht. „Er musste die Tür öffnen, Pjotr kam rein, hat mich an die Wand gedrückt, mir eine Kopfnuss verpasst.“ Der 21-Jährige habe ihn zu Boden geworfen und minutenlang ins Gesicht geschlagen. Einer der Angeklagten habe ihm zugerufen, dass er für immer in ihrer Schuld stehe. „Da wurde mir klar, dass ich da nicht rauskomme und ich bin zur Polizei gegangen, obwohl ich mich damit selbst belasten musste“, sagt der Zeuge.
Die Vernehmung des Wohltorfers soll am Dienstag, 4. Februar, fortgesetzt werden. Auch ein zweites Erpressungsopfer soll aussagen. Das Gericht hat acht Verhandlungstage anberaumt und 16 Zeugen geladen.