Reinbek. Schleswig-Holsteins ehemaliger Ministerpräsident fordert beim Kamingespräch im Schloss Reinbek schärfere Regeln für soziale Netzwerke.

Björn Engholm zieht noch immer. Sein Namensvetter, Reinbeks Bürgermeister Björn Warmer, hatte den einstigen Landesvater zum Kamingespräch des Vereins Kontakt ins Schloss eingeladen. Bereits zehn Minuten vor Beginn des Talks waren alle Plätze im Festsaal besetzt, so dass eilends weitere Stühle herbeigeschafft wurden. Letztlich kamen knapp 200 Neugierige, um zu hören, was der ehemalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein (1988 bis 1993) über die drängendsten Fragen der Gegenwart zu sagen hat. Das tat der 79-Jährige bei einem guten Glas Grauburgunder, wie man ihn kennt: hanseatisch gelassen, smart und empathisch.

Anlass für die Einladung war eine Urlaubsreise Warmers Anfang des Jahres. Auf dem Flug zu Freunden in Singapur hatte er ein Buch von Günther Potschien zum „Fall Barschel“ gelesen. Engholms Aufstieg zum Hoffnungsträger der SPD, wie sein früher Abschied aus der Politik 1993, waren eng verbunden mit dem CDU-Politiker Uwe Barschel, den Engholm 1988 als schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten abgelöst hatte. „Diese Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen“, sagt Warmer. Angesichts der jüngsten Wahlerfolge der AfD sei es ihm lohnenswert und spannend erschienen, mit Engholm unter dem Motto „Gnadenlose Politik?“ darüber zu sprechen, ob und wie sich die politische Kultur in den vergangenen drei Jahrzehnten in Deutschland verändert habe.

Reinbeks Bürgermeister zeigt Talent als Talkmeister

Warmer, der mit seinen hintergründigen Fragen durchaus das Talent zum Talkmaster erkennen ließ, entlockte seinem Parteifreund sogar ganz private Einblicke. Etwa, dass dessen Vorname Björn eine Referenz der Eltern an den Ur-Urgroßvater sei, der als schwedischer Amtmann irgendwann in Lübeck hängen geblieben ist.

Dass Engholm Fischbrötchen für eine kulinarische Verfehlung halte, der er Marzipan auf Weißbrot jederzeit vorziehe. Dass er lieber in ein Ruderboot statt aufs Fahrrad steige. Und dass er es außerordentlich bedauere, dass er als leidenschaftlicher Pfeifenraucher selbst in immer mehr Lübecker Kneipen zum Paffen vor die Tür geschickt werde. Weshalb er eingedenk des benötigten Equipments – Pfeifenreiniger, Tabak, Streichhölzer – und des geliebten Glases Wein notgedrungen auf das Rauchen von Zigarillos umgestiegen sei.

Die zentralen Aussagen von Björn Engholm

Doch nach Warmers Warm-Up wurde es dann schnell substanziell und tiefgründig in Reinbek. Dabei ist der stolze Lübecker keiner Frage ausgewichen. Die wichtigsten Antworten hat das Abendblatt nachfolgend protokolliert.
Björn Engholm über die SPD:
Ihr Zustand bereitet mir große Sorge. Ihr fehlt es derzeit nicht nur an charismatischen Führungsfiguren wie Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt, sondern auch an Durchsetzungsvermögen. Es wird lange brauchen, bis die SPD wieder bei 20 Prozent ankommt. Auch deshalb, weil die Partei den linken Rand zu früh aufgegeben hat. Die SPD muss sich zudem den Respekt vom politischen Gegner zurückerobern. Allzu oft bekommen Sozialdemokraten den erst, wenn sie tot sind, siehe Willy Brandt.
...über den Verbleib in der Großen Koalition:
Diese Frage hat die SPD tief gespalten. Ich plädiere dafür, sie mit Anstand zu Ende zu bringen. Die Sozialdemokraten haben dort durchaus ihre Verdienste. Aber sie bringen ihre Erfolge einfach schlecht rüber. Wer glaubt, auf der harten Oppositionsbank neben FDP und AfD könne sich die Partei leichter regenerieren und ihr Profil schärfen, der irrt. Opposition macht immobil.
...über Gerechtigkeit:
Sie muss in jedem Fall das zentrale Thema der Sozialdemokratie bleiben. Dazu gehört vor allem eine Umverteilung der Vermögen. Weil nur so eine gleichmäßigere Verteilung von Lebenschancen in diesem Land möglich ist. In diesem Sinne muss es auch das Bestreben der Partei sein, bessere Bedingungen für die junge Generation zu erstreiten, um weniger als Rentnerpartei wahrgenommen zu werden.
...über Ralf Stegner:
Dass das Ringen um gute Konzepte über Parteigrenzen hinweg funktionieren kann, hat er als SPD-Fraktionschef im schleswig-holsteinischen Landtag immer wieder bewiesen. Als der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki 2017 in den Bundestag wechselte, hat er sich in einer bewegenden Abschiedsrede insbesondere bei Stegner bedankt. „Trotz aller scharfen Debatten und Widrigkeiten – ohne sie wäre das Parlament definitiv ärmer gewesen“, hat Kubicki gesagt. Das war fast wie ein Ritterschlag. Und zeigt, wie wichtig Stegner für die Partei nach wie vor ist.
...über die Wahlerfolge der AfD vor allem in den neuen Bundesländern:
Man hat den Menschen im Osten nach dem Mauerfall systematisch ihre Identität genommen, insbesondere durch das Wirken der Treuhand. Viele haben da allen Grund, böse zu sein. Weil es zu viele alte Wunden gibt, die nicht vernäht worden sind. Für mich sind die Hälfte aller AfD-Wähler aber reine Protestwähler.
...über soziale Netzwerke:
Das ist ein sehr dynamisches, aber janusköpfiges System, das leicht zum Aufschaukeln neigt. Es erleichtert Menschen, sich zu vernetzen, das ist fraglos positiv. Aber dort kann bislang jeder alles sagen, ohne dafür Verantwortung übernehmen zu müssen. Wenn ein Blogger wie Rezo 18 Millionen Menschen erreicht, dann entsteht eine Medienmacht, die unbedingt Regeln, moralische und ethische Richtlinien braucht. Persönliche Herabwürdigungen, wie sie unter anderem Renate Künast erleiden musste, sind aus meiner Sicht völlig inakzeptabel. Da sind Grenzen der Streitkultur erreicht, die klarer als bisher fixiert werden müssen. Sonst geht die Demokratie flöten.
...über Volksnähe:
Es sitzen inzwischen zu viele Akademiker im Bundestag. Die Arbeiter werden hingegen kaum noch repräsentiert. Dadurch ist die Nähe zum Volk abhanden gekommen. Die Parlamentarier müssen sich dessen Sorgen und Nöten wieder offensiver stellen.