Ahrensburg. Mehr als 150 Stormarner kommen in die Stadtbücherei und informieren sich beim Juso-Chef über dessen teils umstrittene Thesen.
Schon mehr als eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn sind die Plätze im ersten Stock der Stadtbücherei Ahrensburg beinahe restlos besetzt. Mehr als 150 Stormarner wollen Kevin Kühnert sehen. Den Mann, der mit seiner Forderung nach der Kollektivierung von Großkonzernen zuletzt die Bundespolitik – und die Bundesrepublik – aufgewirbelt hat.
Doch um Kühnerts umstrittene Thesen sollte es in der Schlossstadt nur am Rande gehen. Vielmehr rückte der Vorsitzende der SPD-Jugend seine Stellvertreterin Delara Burkhardt in den Mittelpunkt. Die Siekerin kandidiert auf dem aussichtsreichen fünften Platz der SPD-Liste für das Europäische Parlament. Gemeinsam wollten der 29-Jährige und die 26-Jährige „junge Zukunftsperspektiven für Europa“ aufzeigen.
Distanz zu den Kollektivierungsthesen
Viele Zuschauer kennen die junge Frau persönlich, die in Siek aufwuchs und die Stormarnschule in Ahrensburg besuchte. Einige Zuhörer tragen ein blaues T-Shirt mit dem gelben Sternenkreis der EU. „Ich bin Europa“ steht in großen Buchstaben darunter. Unter den Gästen sind auch viele junge Gesichter.
„Als wir den Abend geplant haben, habe ich noch gesagt: Ach, so bekannt ist Kevin ja auch nicht“, scherzt Burkhardt. „Da hatte er uns aber auch nicht verraten, dass er vorher wochenlang die Schlagzeilen beherrschen würde“, fügt Ahrensburgs SPD-Chef Eckart Böge hinzu, der den Abend moderiert. Spontan wurde die Diskussion wegen des Andrangs vom Rathaus-Foyer in die Bibliothek verlegt. Gleich zu Beginn distanziert sich Burkhardt, ebenso wie Ortschef Böge, von Kühnerts Verstaatlichungs-Forderung, nur einmal kommt das Thema wieder auf. Als Burkhardt über die „Fridays for Future“-Bewegung spricht, kann sie sich eine Spitze gegen ihren Kollegen nicht verkneifen. „Die haben Ideen, die sagen nicht einfach: Kollektiviert alles“, lobt Burkhardt mit einem Seitenhieb auf Kühnert. In ihrem Eingangsstatement punktet Delara Burkhardt mit Ortsnähe und Humor, sagt: „Ich habs jetzt tatsächlich das erste Mal ins Obergeschoss dieses Gebäudes geschafft. Als Kind haben mich meine Eltern immer nur in der Jugendabteilung unten abgestellt, wenn sie auf den Wochenmarkt wollten.“
Lokale Bezüge sorgen für Anschaulichkeit
Sätze wie diese rufen immer wieder Gelächter und Applaus hervor. Dann wird Burkhardt ernst: „Wenn Internetkonzerne wie Amazon weniger Steuern auf ihren Gewinn aus dem Online-Buchhandel zahlen als eine Traditionsbuchhandlung wie Stojan in Ahrensburg, ist das nicht gerecht.“ Auch für ihre Kritik am Investitionsmangel, den es in Deutschland gebe, wählt sie ein örtliches Beispiel: „Der Chemieraum der Stormarnschule, in dem ich gelernt habe, erstrahlt immer noch im Charme der 1970er-Jahre.“
Lässig mit dunkelblauem Flanellhemd, Jeans und Turnschuhen bekleidet tritt Kühnert ans Mikrofon. Er warnt vor einem Europa, das den Interessen seiner Bürger nicht mehr gerecht werde. „Vielleicht ist die Geschichte, die wir von Europa erzählen, zu elitär“, sagt er. „Für wen sind Erasmus oder eine Europa-Tour mit dem kostenlosen Interrail-Ticket der EU Realität?“, fragt er. „Nicht für die Azubis, nicht für junge Menschen mit geringem Einkommen, die gern mal Urlaub in Deutschland machen würden.“
Mangelnde Transparenz ist immer wieder Thema
Immer wieder kritisiert er ein Versagen des Marktes. „Erst wehren sich Banken und Konzerne gegen staatliche Eingriffe. Aber wenn sie es dann verbockt haben und eine Wirtschaftskrise unabwendbar ist, dann betteln sie um staatliche Hilfe“, sagt er. „Warum können Autokonzerne ihren Managern fette Boni zahlen, aber nicht die Dieselnachrüstungen finanzieren?“, fragt Kühnert und bekommt heftigen Beifall. Der deutsche Exportüberschuss sei zudem „nichts, worauf man stolz sein kann“. Wir lebten auf Kosten schwächerer Volkswirtschaften, das entspräche aber nicht dem europäischen Solidaritätsgedanken.
Seine energische, emotionale und bisweilen laute Art kommt beim Publikum an, immer wieder geht zustimmendes Raunen durch die Ränge. Die rege Beteiligung an der Fragerunde macht es notwendig, die Veranstaltung um mehr als eine halbe Stunde zu verlängern. Die Fragen drehen sich um EU-Finanzhilfen, Arbeitnehmerschutz, Steuerpolitik. Aber vor allem um mangelnde Transparenz in EU-Entscheidungsprozessen. Wie denn die deutschen Finanzhilfen für Krisenländer den Menschen in Portugal, Spanien und Griechenland zugute kämen, fragt eine Frau. Ein älterer Herr möchte wissen, wie man die EU reformieren solle, wenn für alle wichtigen Entscheidungen eine Einstimmigkeitsklausel unter den Mitgliedsstaaten gelte. Er sagt: „Ich bin 75, werde ich die Änderungen überhaupt noch miterleben?“
Zuhörer üben auch Kritik an der Politik der SPD
Einige Zuschauer äußern auch Kritik. Die SPD habe sich in der Vergangenheit zu wenig mit Zukunftsfragen befasst, kritisiert ein Mann. „Ihr habt doch den Umwelt- und Verbraucherschutz den Konzernen ausgeliefert, indem ihr mit Freihandelsabkommen wie CETA die Möglichkeit gebt, Staaten zu verklagen“, echauffiert sich ein anderer.
Kühnert und Burkhardt nehmen sich viel Zeit für die Antworten. Holen auch einmal weit aus und punkten mit viel Fachwissen. Ihr Grundtenor: Europa brauche mehr Einigkeit, mehr Visionen und weniger nationalistisches Denken. „Es reicht nicht, sich vor den Wahlen alle fünf Jahre als Europäer abzufeiern“, sagt Burkhardt. Im EU-Parlament sei die Altersgruppe der Mittzwanziger deutlich unterrepräsentiert, meint Kühnert. Der Juso-Chef sagt: „Um das zu ändern, ist Delara als dann jüngste deutsche Europaabgeordnete genau die Richtige.“