Reinbek. In unserer Serie Bank-Geheimnisse treffen wir Stormarner auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Frank Theune, Obdachloser aus Reinbek.
Es gibt Momente im Leben, die einem den Boden unter den Füßen wegreißen. Wenn zum Beispiel ein geliebter Mensch plötzlich nicht mehr da ist. Einige stehen nach solchen Schicksalsschlägen schnell wieder auf, andere sind mit der Situation überfordert und stürzen ab.
Letzteres trifft auf Frank Theune (66) zu. Der Reinbeker verlor im August 2014 seine Frau, die im Alter von 50 Jahren an einem Herzleiden starb. Er hörte mit der Arbeit auf, begann das Trinken und wurde zum Obdachlosen. „Hätte ich so weitergemacht, wäre ich jetzt nicht mehr am Leben“, sagt der gebürtige Essener.
Nun sitzt Theune auf seiner Lieblingsbank in Stormarns zweitgrößter Kommune im Stadtteil Schönningstedt. Er trägt Badelatschen, ist mit blauer Jeans sowie grauem Langarm-Shirt bekleidet, blickt in die Sonne und erzählt seine Geschichte.
Sie ist bemerkenswert, weil von enormer Willenskraft geprägt. Denn er hat es geschafft, mit der Sauferei aufzuhören – ohne Therapie und fremde Hilfe, von heute auf morgen. „Weil es noch viele Dinge zu erleben gibt“, erklärt der Rentner und gibt als Wendepunkt den Tag eines Arztbesuches an. Der Mediziner habe ihm dringlichst geraten, den Alkoholkonsum zu reduzieren. Die Leber war schon aufgeschwemmt. Das ist zwei Jahre her.
Sein Zimmer ist zehn Quadratmeter groß
Es geht ihm inzwischen wieder gut, die Blutwerte sind in Ordnung. Lediglich das Hinken eines Beines führt er als Handicap an. Und dennoch lebt Theune anders als in früheren Jahren – vor allem bescheidener.
Er ist im Reinbeker Rathaus als Obdachloser geführt, wohnt in einer entsprechenden Unterkunft. Sein Zimmer ist zehn Quadratmeter groß, ausgestattet mit rotem Teppich, einem Schlafsofa im gleichen Farbton, dazu eine schwarze Vitrine und ein brauner Schrank in Bucheoptik. Der kleine Röhrenfernseher am Boden scheint wie aus der Zeit gefallen. Mehr passt auch nicht rein. Bad und Küche teilt er sich mit seinen zwei Mitbewohnern, einem 25 Jahre alten Afghanen sowie einem Mann aus Osteuropa. „Ich zahle pro Monat 63 Euro Miete, habe eine kleine Rente sowie die meiner Frau“, sagt Theune. Für eine eigene Wohnung auf dem freien Markt reichen seine Einkünfte nicht aus.
Bis zu dem Tod seiner Frau hat Theune eine Vita wie Millionen andere in diesem Land. Er wächst in Essen mit zwei Brüdern auf, seine Eltern betreiben eine Gärtnerei. Nach der Hauptschule arbeitet er kurz in diesem Betrieb, macht dann eine Lehre bei Krupp zum Dreher und arbeitet nach dem Abschluss ein Jahr als Geselle. „Das hat auf Dauer aber keinen Spaß gemacht. Den ganzen Tag nur an der Maschine zu stehen, das war nicht mein Ding“, sagt Theune, der schon als Kind mit Vorliebe Lastwagen gezeichnet hat. Er verpflichtet sich für vier Jahre bei der Bundeswehr, macht seinen Lkw-Führerschein. Die Gärtnerei wird nach der Trennung der Eltern verkauft. Theune hat kein Interesse an einer Übernahme. Er heuert in den Jahren bei mehreren Unternehmen an und fährt Lastwagen quer durch Europa.
Früher fuhr Frank Theune einen VW Golf
„Zwischendurch war ich auch einmal sechs Monate ohne Job, aber meine Frau hat gut verdient.“ Sie leben in Essen zur Miete, er fährt einen VW Golf, spielt Fußball in einer Altherren-Mannschaft. Das Paar bleibt kinderlos, kauft sich ein Wohnmobil und verbringt die Sommerferien meistens an der Ostsee. „Was an Geld rein kam, wurde auch gleich wieder ausgegeben. Insofern haben wir schon ein bisschen über unsere Verhältnisse gelebt und nichts angespart“, so der Reinbeker. 2014 ziehen die Theunes in ein kleines Örtchen nach Niedersachsen. Dort wohnt eine Schwester seiner Frau, die alleinerziehend ist. Sie helfen gern und passen auf den Nachwuchs auf. Wenige Monate später passiert das, was Theune als „Knick in meinem Leben“ bezeichnet. Seine Frau schläft ein und wacht nicht wieder auf. Nach 15 gemeinsamen Jahren. Sie hatte von Geburt an einen Herzfehler.
Mitbewohner aus Afghanistan ist sein einziger Freund
„Ich habe mich einsam und von Gott und der Welt betrogen gefühlt, bin abgestürzt“, sagt er rückblickend. Schon morgens nach dem Aufstehen ertränkt er seinen Kummer in Cognac, meidet soziale Kontakte. Es wird immer schlimmer. „Mir wurde gesagt, ich sei ausfällig geworden, wenn ich getrunken habe.“ Eine andere Schwägerin, die in Stormarn lebt, überredet ihn, nach Reinbek zu ziehen. Theune willigt ein. Nichts hält ihn mehr in dem Ort, wo er eigentlich alt werden wollte.
Inzwischen wohnt der frühere Lkw-Fahrer seit vier Jahren in der Unterkunft, hatte auch immer ein Dach über dem Kopf. Auf Platte, also im Freien, hat er nie gelebt. Der Kontakt zu Familienmitgliedern ist begrenzt. Theune: „Wir telefonieren an Feiertagen wie Weihnaten und wünschen uns alles Gute. Das ist es dann aber auch schon.“ Ob er heute glücklich ist? Theune überlegt, runzelt die Stirn und sagt „zu 50 Prozent“. Er denkt noch viel an seine Frau, kann sich aber nun auch eine neue Partnerschaft vorstellen. „Obwohl ich nicht gezielt auf Suche gehe.“
Dass er als Obdachloser gilt, nagt nicht an seinem Selbstwertgefühl. „Ich wurde noch nie bepöbelt und als Penner bezeichnet.“ Allerdings habe er den Eindruck, dass die Gesellschaft über das Thema Obdachlosigkeit hinwegblicke. Mitleid erwarte er jedoch nicht. Genauso wenig beneidet er andere, denen es finanziell besser geht: Familien in naher Umgebung mit eigenem Haus und mehr als einem Fahrzeug. „Ich freue mich, wenn es anderen Menschen gut geht.“
Dass er zufrieden mit seinem Leben ist, liegt auch an seinem afghanischen Mitbewohner, den Theune als seinen einzigen Freund bezeichnet. Gleichwohl habe er auch Kontakt zu anderen Männern im Wohnblock aus Jemen und dem Irak. „Die sprechen nicht alle perfekt Deutsch, aber mit Händen und Füßen können wir uns auch verständigen.“ Mit dem Afghanen kocht er mehrmals die Woche zusammen, oft Bratkartoffeln und Spaghetti. Fleisch gibt es selten – und wenn, dann kaufen sie es im Sonderangebot beim Discounter. „Außerdem besuche ich immer montags die Tafel“, sagt der Reinbeker.
Als Fußball-Fan freut er sich über Siege von Schalke 04
Mit dem Freund, der sein Sohn sein könnte, unternimmt er Spaziergänge. „Und wir reden über viele Themen, auch unsere Gefühle und Dinge, die einen bewegen.“ Er lebe in den Tag hinein, habe aber nie Langeweile.
Vor Kurzem haben die beiden Männer den Nachmittag am Radio verbracht, die Bundesliga-Show auf NDR 2 verfolgt. Sie konnten sich dabei nicht gemeinsam freuen. Theune ist Fan von Schalke 04, sein Mitbewohner Anhänger des Rivalen Borussia Dortmund. Die Gelsenkirchener siegten im Derby 4:2. Theunes Augen glänzen, wenn er über den Auftritt der Königsblauen an jenem Tag schwärmt. Er hat die Freude am Leben wieder entdeckt. Und wie sieht es mit Zielen aus? „Ich will noch mindestens zehn Jahre leben“, sagt er und fügt dann hinzu: „Materielles ist mir nicht wichtig. Hauptsache, ich behalte meinen klaren Kopf.“