Bad Oldesloe. Menschen trauern um Robin L. (21), der Polizisten bedroht hatte. Beamter feuerte zweimal auf den Obdachlosen. Staatsanwalt ermittelt.
Rote Grablichter flackern auf dem Gehweg, daneben liegen Blumen und ein kleiner, weißer Engel. Viele Oldesloer kommen am Montag zu dieser Stelle, an der am Vortag der 21 Jahre alte Obdachlose Robin L. von einem Polizisten erschossen wurde. Sie trauern um einen Mann, den die meisten „vom Sehen“ kannten. „Er war in der Stadt bekannt, gehörte zu Bad Oldesloe dazu“, sagt Sina Heuer. Die Passantin kniet nieder, zündet eine Kerze an. Ihre Freundin Beate Ernst legt einen Strauß roter Rosen daneben.
Ihre drei Töchter im Alter von 14, 15 und 16 Jahren hätten dem Obdachlosen ab und zu etwas von ihrem Taschengeld abgegeben, „damit er sich Essen oder Trinken kaufen konnte“, sagt die 37-Jährige. „Er saß oft am Parkhaus an der Königstraße, hat sich dort mit ihnen unterhalten. Der Mann war nicht bösartig oder so.“ Allerdings habe man ihm angesehen, dass er psychisch krank war. „Er hat viel wirres Zeug vor sich hergebrabbelt“, sagt Beate Ernst.
Zeugen: Mit Stichbewegungen auf Polizisten zugegangen
Der genaue Ablauf des Geschehens und die Hintergründe sind auch am Tag danach nicht abschließend geklärt. „Wir müssen das, was sich vor Ort abgespielt hat, erst einmal genau analysieren“, sagt der für die Ermittlungen zuständige Lübecker Staatsanwalt Christian Braunwarth auf Abendblatt-Anfrage.
Nach Zeugenaussagen soll der Obdachlose am Sonntag gegen 11.25 Uhr mit einem Messer mit 18 Zentimeter langer Klinge bedrohlich und mit gegen den Oberkörper gerichteten Stichbewegungen auf die Beamten zugegangen sein. Trotz mehrfacher Aufforderungen habe er das Messer nicht weggelegt – auch nicht, als einer der Polizisten einen Warnschuss abgegeben hatte. „Ein zweiter Beamter des Polizeireviers Bad Oldesloe schoss daraufhin zweimal, beide Kugeln trafen den 21-Jährigen in den Oberkörper“, sagt Christian Braunwarth.
Staatsanwaltschaft startet Todesermittlungsverfahren
Nach bisherigem Stand der Ermittlungen hatten Anwohner zuvor die Polizei gerufen, weil der Obdachlose nahe dem Oldesloer Hallenbad mit einem Messer herumgelaufen war. Die Beamten rückten mit zwei Streifenwagen aus Bad Oldesloe sowie einem weiteren aus Bargteheide an. Doch der nach Auskunft der Ermittler psychisch kranke Mann war inzwischen etwa 300 Meter weitergelaufen, befand sich nun an der Schützenstraße. Dort eskalierte die Situation, die Schüsse fielen. Der Obdachlose erlag noch am Einsatzort seinen schweren Verletzungen.
Ob es sich bei den Schüssen um Notwehr handelte, müsse noch zweifelsfrei geklärt werden, so Braunwarth. Darüber werde ein sogenanntes „Todesermittlungsverfahren“ Aufschluss geben. Über das Alter der Polizisten machte er keine Angaben. Das Opfer sei wegen mehrerer Straftaten polizeibekannt gewesen. Der Leichnam des Mannes wurde zur Rechtsmedizin nach Lübeck gebracht, die Staatsanwaltschaft hat eine Obduktion angeordnet.
Viele Oldesloer sind entsetzt über das Geschehen in ihrer Stadt, versuchen es zu begreifen. So auch Anna Möller. Die 47-Jährige arbeitet als Hebamme in der Kreisstadt. Sie hatte den Mann noch am Sonnabend gesehen. Gegrübelt, welches Schicksal ihn wohl auf die Straße getrieben hat. „Ich bin betroffen, dass die Gesellschaft einem so jungen Menschen keine Hilfe bieten konnte“, sagt sie sichtlich aufgewühlt.
"Warum konnten Polizisten die Situation nicht anders lösen?"
Die Frau legt an der Schützenstraße Blumen ab. „Ich möchte ein Zeichen setzen, dass jemand an ihn denkt.“ Sie hofft, dass der Fall lückenlos aufgeklärt wird. „Ich stelle mir die Frage, warum mehrere Polizisten die Situation nicht anders lösen konnten als auf diese furchtbare Weise“, sagt sie. „Es war doch keine Menschenmenge da, auf die der Mann losgegangen ist.“
Karin und Richard Rohweder stehen vor ihrem Hauseingang, blicken auf die trauernden Menschen, die fast im Minutentakt hierher kommen. Sie wohnen direkt nebenan. „Wir waren am Sonntag gerade beim Frühstücken, als wir einen lauten Knall hörten“, sagt die 77-Jährige. Sie hätten an einen geplatzten Autoreifen gedacht, „aber nicht an Schüsse“, sagt ihr Mann.
Als immer mehr Streifenwagen vor ihrem Haus anhielten, wurden die beiden stutzig, blickten aus dem Fenster auf den Sichtschutz, den die Polizei inzwischen hatte aufstellen lassen. „Es hat lange gedauert, bis die Spurensicherung abgeschlossen war“, sagt Richard Rohweder. Erst gegen 21.30 Uhr seien die Einsatzkräfte abgerückt. „Das hat mich verwundert. Normalerweise geht das schneller.“ Er kenne sich beim Thema aus, sagt der 82-Jährige. Als ehemaliger Staatsanwalt in Hamburg habe er viel mit Mordprozessen zu tun gehabt.
"Er lief immer ohne Schuhe herum"
Auch eine Gruppe Kinder steht am Montag mit Betreuern vor dem Ort des Geschehens. Sie stammen aus dem Kinderhaus Blauer Elefant, das sich direkt daneben befindet. „Natürlich bekommen Kinder so etwas mit und sind betroffen“, sagt Ingo Loeding, Geschäftsführer des Deutschen Kinderschutzbundes in Stormarn, der die Einrichtung betreibt. „Die Auseinandersetzung damit ist Bestandteil unserer pädagogischen Arbeit.“ Auch Eltern sollten solche schlimmen Ereignisse nicht verschweigen, sondern mit ihren Kindern darüber reden, rät er.
Eine junge Frau hält mit ihrem Auto an der Schützenstraße, stellt eine weitere Kerze hin. „Ich habe den Mann in diesem Sommer zum ersten Mal in Bad Oldesloe gesehen und seitdem fast täglich“, sagt die 22-Jährige. Er sei immer ohne Schuhe und mit kaputter Hose herumgelaufen. Sie habe ihm öfter Essen und Trinken gegeben. „Er war dankbar“, sagt sie. „Er soll wohl schon drei Jahre auf der Straße gelebt haben.“
Auch bei der Oldesloer Tafel sind die tödlichen Schüsse Gesprächsthema. „Schlimm, dass so etwas passiert“, sagt eine Mitarbeiterin. Bei ihnen habe sich der junge Mann aber nie Essen geholt.
Psychologischer Dienst hilft Polizisten
Schüsse gegen Menschen gab es bei Polizeieinsätzen in Schleswig-Holstein laut Landespolizeiamt in Kiel vor der Tragödie in Bad Oldesloe dieses Jahr dreimal: In Harrislee fiel am 15. Mai ein Warnschuss. In Flensburg (29. August) und Heringsdorf (Ostholstein, 20. September) wurde jeweils ein Mann verletzt.
Außerdem stoppte eine Bremer Kollegin, die privat unterwegs war, im Mai die Messerattacke eines Mannes in einem Zug im Flensburger Bahnhof mit einem tödlichen Schuss. Im Vorjahr wurden sechs Warnschüsse sowie vier Waffeneinsätze mit einem Verletzten registriert. 2016 gab es einen Einsatz mit einem Verletzten. 2015 gaben Beamten zwei Warnschüsse ab, bei zweimaligem weiteren Waffengebrauch wurde niemand verletzt. 2014 erschossen Polizisten in Husum aus Notwehr einen Messerstecher.
Die meisten Schüsse feuern Polizisten ab, um kranke oder verletzte Tiere (vor allem nach Wildunfällen) zu erlösen – im Vorjahr mehr als 450-mal.
Der Landespsychologische Dienst unterstützt Betroffene bei aktuellen Vorfällen mit einem Netzwerk von sogenannten „Betreuern nach belastenden Einsätzen“. In der Ausbildung ist Waffengebrauch „umfangreicher Bestandteil“ mit Schießtraining, rechtlichem und berufsethischem Fachunterricht.