Lütjensee. Die Einwohner der Gemeinde sind entweder begeistert oder besorgt. Die Fischerklause erwartet viele neue Besucher.

Er steht mitten auf dem schneebedeckten Lütjensee und blickt seelenruhig direkt in die Kamera. Bereits zum zweiten Mal ist es Gastronomin Claudia Retter gelungen, den Wolf zu filmen, der seit Montag durch ein angrenzendes Waldstück streift und sich immer mal wieder auf dem zugefrorenen Gewässer zeigt. Offenbar fühlt sich das Tier in Lütjensee sehr wohl.

Lora Gertz (25, r.) hat sich Pfefferspray besorgt, um Sohn Jannes und Hund Barney vor dem Wolf beschützen zu können. Ihre Mutter Olga Lenhardt (47) hat keine Angst
Lora Gertz (25, r.) hat sich Pfefferspray besorgt, um Sohn Jannes und Hund Barney vor dem Wolf beschützen zu können. Ihre Mutter Olga Lenhardt (47) hat keine Angst © HA | Janina Dietrich

Bei vielen der rund 3300 Einwohner ist der Wolf Gesprächsthema Nummer eins. „Mit fast jedem, den ich beim Spazierengehen treffe, rede ich darüber“, sagt Hundehalterin Lora Gertz. „Die Videos gingen ganz schnell rum im Ort. Alle finden es spannend.“ Sie selbst habe aber auch ein wenig Angst, gibt die 25-Jährige zu. Insbesondere wegen ihres kleinen Havanesers Barney und wegen ihres Sohnes Jannes (zehn Monate). „Ich habe immer Pfefferspray dabei, wenn wir am See unterwegs sind“, sagt sie. „Aber es gibt hier viel Wild, da wird er uns wohl nicht angreifen.“ Ihre Mutter Olga Lenhardt sagt: „Wölfe sind menschenscheu.“ Größere Sorgen habe sie wegen der Wildschweine, von denen es am Lütjensee jede Menge gebe. Sie sagt: „Wenn die Frischlinge haben, sind die viel gefährlicher als Wölfe.“

Viele Hundehalter haben am See ein mulmiges Gefühl

Margrit Buchholz (59) meidet mit ihren Hunden momentan
Margrit Buchholz (59) meidet mit ihren Hunden momentan © HA | Janina Dietrich

Margrit Buchholz hat trotzdem ein mulmiges Gefühl, wenn sie dieser Tagen mit ihren Hunden am See spazieren geht. „Ich möchte hier keinem Wolf begegnen“, sagt die 59-Jährige aus Großhansdorf. „Wenn er hungrig ist, sind die Hunde doch eine leichte Beute.“ Normalerweise nehme sie gern mal kleine Wege quer durch den Wald, „aber die meide ich jetzt lieber“.

Am Montagvormittag hatte Claudia Retter, die mit ihrem Mann Gerhard das Restaurant Fischerklause am Seeufer betreibt, den Wolf zum ersten Mal gesehen – und mit dem Smartpone gefilmt. Einen Tag später bestätigte das Umweltministerium in Kiel, dass es sich bei dem Tier eindeutig um einen Wolf handelt. Seitdem herrscht bei der Gastronomin der Ausnahmezustand. Zahlreiche Presseanfragen erreichten die Retters, auch Fernsehteams waren bereits vor Ort am Lütjensee.

Beim „Wolf-Watching“ steht Wolfsbarsch auf der Karte

„Wir sind alle ein bisschen aufgeregt, dass der Wolf in unserer kleinen Gemeinde ist“, sagt die 45-Jährige. „Auch bei meinen Kindern in der Schule und in der Kita sprechen alle davon.“ Als sie am Mittwochmorgen gegen 7.30 Uhr die Gardinen ihres Schlafzimmerfensters beiseite zog, stand der Wolf erneut auf dem Lütjensee. Gemeinsam mit ihren Töchtern Elisa (9) und Johanna (5) beobachtete sie das Tier. „Es stand einfach nur dort und hat sich umgeblickt – bestimmt zehn Minuten lang.“ Seitdem schaut sie immer wieder aus dem Fenster – in der Hoffnung, den Wolf noch einmal zu entdecken.

Claudia Retter (45) entdeckte den Wolf beim Blick aus der Fischerklause
Claudia Retter (45) entdeckte den Wolf beim Blick aus der Fischerklause © HA | Janina Dietrich

„Vielleicht zeigt er sich an diesem Wochenende noch mal“, sagt Retter. Sie rechnet damit, dass heute und morgen viele Gäste zum „Wolf-Watching“ in ihr Restaurant kommen, hat sich etwas Besonderes ausgedacht. „Wir haben Wolfsbarsch auf die Karte gesetzt“, sagt die Sommelière mit einem Schmunzeln.

CDU-Politiker: „Niemand weiß, wie der Wolf reagiert“

Die Stimmung im Ort sei gemischt, sagt Jürgen Stolze (CDU), stellvertretender Bürgermeister. „Der Wolf ist zwar eine Attraktion. Aber er bleibt ein Raubtier, das leben will.“ Er selbst betrachte das Ganze mit Skepsis. „Der Wolf wurde nicht weit entfernt von den Kindergärten gesehen“, sagt er. „Das ist schon beängstigend.“ Er könne auch die Angst der Hundehalter nachvollziehen. Denn niemand wisse, wie der Wolf reagiert, wenn er Hunger hat und nichts in der Natur findet. Stolze ist zudem in Sorge um sein eigenes Damwild-Gehege.

Richtig verhalten!

Etwa 150 Jahre lang gab es in Deutschland keine Wölfe. Die Raubtiere waren zuvor über Jahrhunderte verfolgt und ausgerottet worden. Durch Schutzmaßnahmen gelang es, sie zurückzuholen. Zunächst siedelten sie sich in Sachsen an. 2007 konnte erstmals wieder ein Wolf in Schleswig-Holstein nachgewiesen werden. Seitdem gab es laut Umweltministerium in Kiel 52 „eindeutige Nachweise“. In Stormarn konnten bisher nur wenige Wölfe gesichtet werden. 2013 wurde ein Tier auf der A 1 totgefahren, 2014 ein weiteres auf der A 24.

Wer einem Wolf begegnet sollte Ruhe bewahren, rät Wolfsbetreuer Gunther Esther. „Stehen bleiben, den Wolf laut und deutlich ansprechen und sich dann langsam zurückziehen.“ So vermeide der Mensch, dass das Raubtier überrascht wird und sich angegriffen fühlt.

Hunde sollten angeleint werden. „Dann sieht der Wolf die Verbindung zum Menschen und tut dem Tier nichts.“ Denn normalerweise haben Wölfe Angst vor Menschen. Problematisch werde es nur, wenn der Wolf verhaltensgestört sei, sagt Esther. „Aber das ist zum Glück ganz selten.“

Drei bis vier Kilo Fleisch benötigt ein erwachsener Wolf laut Wolfsinformationszentrum Schleswig-Holstein pro Tag. Das entspreche aufs Jahr hochgerechnet 60 Rehen oder 16 Rothirschen. Diese sind in Europa neben Wildschwein, Elch und Rentier seine Hauptbeute.

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Bisher war der Wolf allerdings nicht dort. Auch sonst habe er noch von keinem Wolfsriss in Lütjensee gehört. Wolfsbetreuer Gunther Esther vermutet, dass sich der Wolf am See ausruht und neue Kraft sammelt. „Er hat einen ganz weiten, gefahrvollen Weg hinter sich“, sagt der Experte. Er geht davon aus, dass der Wolf etwa zwei Jahre alt ist und deshalb aus seinem Rudel in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt vertrieben wurde. „Auf seinem Weg nach Stormarn musste er mehrere Autobahnen kreuzen und durch die Elbe schwimmen“, sagt Esther. Das habe Kraft gekostet. Am Lütjensee finde er nun genügend freilebende Wildtiere, um sich zu stärken, bevor er weiter Richtung Dänemark laufe.

Denn das Naturschutzgebiet in Lütjensee, in dem sich der Wolf momentan aufhalte, sei mit nicht mal 100 Hektar Fläche eigentlich zu klein – „vor allem, wenn er ein eigenes Rudel gründen will“. Esther war in den vergangenen Tagen viele Stunden am Lütjensee. „Ich habe versucht, im Auftrag des Umweltministeriums DNA-Spuren zu sichern, aber das ist mir bisher nicht gelungen.“ Unklar ist deshalb noch, ob es sich um ein männliches oder ein weibliches Jungtier handelt. Der Wentorfer appelliert an die Menschen, sich in dem Naturschutzgebiet nicht auf die Suche nach dem Wolf zu machen. „Wenn er gestört wird, rennt er in Panik vielleicht irgendwo vor ein Auto.“