Ahrensburg. Die in Ahrensburg lebende Familie hat bei der türkischen Militäroffensive auf Afrin Angehörige verloren. Ein Besuch bei Trauernden.
Die Wohnung von Familie Mustafa liegt ganz am Ende einer ruhigen Wohnstraße in Ahrensburg. Hinter dem Haus kommt nur noch der Golfplatz mit seinen geordneten Bahnen und dem exakt getrimmten Gras. Es ist nicht viel los im Viertel. Eine ältere Dame geht spazieren, ein Mitarbeiter vom Golfclub ist am Abschlagplatz beschäftigt. Ein gewöhnlicher Wochentag am Rande der Stadt Ahrensburg: Alltag, Ordnung, Ruhe.
All das gibt es für Familie Mustafa derzeit nicht. Seit die Türkei gemeinsam mit örtlichen Milizen gegen die syrische Stadt und kurdische Hochburg Afrin vorrückt, hat die normale Zeitrechnung ausgesetzt. Wer die Schwelle zur Wohnung der Mustafas überschreitet, verlässt den deutschen Alltag und betritt eine Welt, die vom Krieg beherrscht wird, von Gewalt, Trauer und von einer lähmenden Hilflosigkeit.
Schwester berichtete als Journalistin über den Krieg
Das Wohnzimmer ist mit Teppichen ausgelegt, Stühle sind zu einem großen Kreis aufgestellt. An den Wänden hängen Flaggen von YPG und YPJ, der kurdischen Miliz in Syrien und ihres weiblichen Pendants, die mit Unterstützung der US-geführten Koalition im Norden des Landes gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ gekämpft hat.
Am Montag hat Mutter Amina erfahren, dass ihre Schwester bei einem Bombenabwurf in ihrer Heimatstadt Afrin ums Leben gekommen ist. Jetzt sitzen Verwandte und Freunde aus Stuttgart, Oldenburg und Bremen im Wohnzimmer. Amina hält ein gerahmtes Foto in der Hand, auf dem Schwester Avrin mit Victory-Zeichen abgebildet ist. Sie sei Journalistin gewesen und habe über den Krieg berichtet, sagt Amina. Immer wieder bricht sie während des Gesprächs in Tränen aus.
Viele Verwandte der Familie sind noch in Syrien
Vor drei Jahren kam die heute 42-Jährige gemeinsam mit ihrem Mann Mohamad Adel und sieben Kindern aus Syrien nach Ahrensburg. Hier haben sie sich gut zurecht gefunden. Die beiden ältesten Kinder beginnen bald eine Ausbildung: der 21-Jährige Mohamad wird eine Lehre zum Fahrzeuglackierer anfangen, seine 18 Jahre alte Schwester will Arzthelferin werden. Bis auf den Jüngsten besuchen alle Kinder in Ahrensburg die Schule, sind in Sportvereinen oder im Theater aktiv.
Viele Verwandte und Freunde der Familie sind aber noch in Syrien – freiwillig oder weil sie nicht fliehen konnten. „Sie haben kein Geld oder werden nicht mehr aus dem Land gelassen“, sagt Amina Mustafa. Um die Lage in ihrer Heimat zu zeigen, greift sie zum Smartphone und wischt durch eine Bildergalerie.
Der Krieg zerstörte ihre Heimat
Zu sehen sind Bilder, die den Krieg zeigen – ungefiltert, unbearbeitet, nicht zensiert. Zerbombte Straßenzüge sind zu sehen, Verletzte und Leichen, unter ihnen Zivilisten und Kinder. Ein Bild zeigt Frauen mit ihren Kindern auf der Flucht, die in einem Stall schlafen. „Das ist unsere Heimat“, sagt Amina Mustafa, „es ist alles zerstört.“ Neuigkeiten aus Afrin kommen über das Internet. Das funktioniere dort aber nur wenn es in Ahrensburg Nacht ist – und dann auch nur sporadisch. Die Ungewissheit über den Verbleib der Verwandten ist kräftezehrend. „Seit zehn Tagen schlafe ich nicht“, sagt Amina Mustafa.
In der Runde sitzen heute auch Hans Henning Offen und Flüchtlingshelfer Karin Boß. Offen hat zu Beginn der Flüchtlingskrise gemeinsam mit seiner Frau das Haus am Ende dieser ruhigen Wohnstraße gekauft, um es an die Stadt für Flüchtlinge zu vermieten. Seither hält er Kontakt zu den Bewohnern. „Familie Mustafa ist sehr gut integriert“, sagt der ehemalige Banker.
Flüchtlingshelferin rief in ihrer Not einen Krankenwagen
Die aktuelle Situation geht dem 78-Jährigen nah. „Ich bin am Ende des zweiten Weltkrieges geboren“, sagt Offen. „Ich hätte nicht gedacht, dass der Krieg noch einmal so nah zu uns kommt.“
Offensive auf die kurdische Hochburg Afrin
Einen besonderen Draht zu der Familie hat Karin Boß. Sie hat sich als Flüchtlingspatin um die Familie gekümmert, als sie nach Ahrensburg kam. Mittlerweile sei sie Oma, Tante oder gute Freundin, sagt Boß. „Je nachdem was gerade gebraucht wird.“
Boß war am Montag bei der Familie, nachdem die Nachricht über den Tod der Schwester sie erreichte. „Ein Schock“, sagt sie. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte und habe erstmal einen Rettungswagen gerufen“. Die Notärzte seien lange geblieben, hätten das Anfordern eines Kriseninterventionsteams angeboten. „Das muss die Familie selbst entscheiden“, sagt Boß.
Flüchtlinshelferin setzt sich für Familiennachzug ein
Als die Flüchtlingshelferin heute in die Wohnung kommt, begrüßt sie die Anwesenden mit einer Umarmung. Sie tröstet vor allem ihre Freundin Amina. Und sie ist sauer auf die Bundesregierung, die über die Begrenzung des Familiennachzugs diskutiert, während in Syrien weiterhin Menschen sterben.
„Mehrere kurdische Familien in Ahrensburg haben bei der Offensive Angehörige verloren“, sagt Boß. Die Flüchtlingshelferin setzt sich in mehreren Fällen dafür ein, dass Angehörige zweiten Grades – also beispielsweise Cousins und Cousinen – nach Ahrensburg kommen können. Ein Kampf mit einem Papiertiger sei das, sagt Boß.
In Deutschland sind die Familien erstmal sicher, aber der Krieg verfolgt sie. „Die Kinder fragen immer: ,Warum?’“, sagt Wisal Shikh Othman, eine der Frauen in der Runde, die auch Verwandte in Afrin hat, „sie verstehen es nicht.“ Aber auch die Erwachsenen sind hilflos. „Die Parteien müssen anfangen miteinander zu sprechen“, sagt der älteste Sohn Mohamad, „Krieg ist keine Lösung.“
Aminas Schwester ist mittlerweile wieder aufgetaucht
Nach einem knappen Monat der Trauer erreichte die Familie Ende Februar die unglaubliche Nachricht: Schwester Avrin hat die Angriffe überlebt. Sie habe sich 26 Tage lang mit einem weiteren verletzten Mann unter Steinen versteckt. „Sie ist an den Beinen verletzt und abgemagert, aber all das zählt nicht“, sagt Karin Boß.