Reinbek. Schülercoaching-Gruppen vermitteln neues Selbstbewusstsein. Im Abendblatt berichten drei Jugendliche von ihren Erlebnissen.
Die 16-jährige Sarah* umarmt Martina Baehr und strahlt. „Ich habe bei ihr erfahren, dass nicht ich das Problem bin, sondern dass die anderen eines haben und es auf mich lasten“, sagt die Teenagerin. Sarah wurde in ihrer Schule gemobbt. Ein Gruppentraining in Reinbek hat ihr geholfen, einen Ausweg aus der Opferkarriere zu finden.
„Ich war nicht so eine Zicke wie die anderen Mädchen“, sagt die 16-Jährige heute über die Zeit in der achten Klasse, als das Mobbing begann. Obwohl sie zu ihrer Mutter ein gutes Verhältnis hat, tat sich Sarah lange schwer damit, davon zu erzählen, dass sie ausgegrenzt wurde und darunter sehr litt. „Ich habe mich davor gedrückt, das zuzugeben“, sagt sie. Schließlich vertraute sie sich ihrer Mutter an und sah ein, dass sie Unterstützung brauchte.
Hilfe fand die Gymnasiastin in der Schülercoaching-Gruppe von Martina Baehr im Reinbeker Beratungszentrum Südstormarn. „Frau Baehr hat mir schon am Anfang vermittelt, dass ich okay bin“, sagt Sarah. Am meisten geholfen habe, mit anderen Betroffenen zu reden. „Die Gruppe hat Sarah gezeigt, dass sie richtig ist. Sie hat Selbstbewusstsein gewonnen und strahlt das jetzt aus“, sagt Sarahs Mutter.
Eine weitere positive Erfahrung hat die 16-Jährige gemacht: Sie erzählte einer Lehrerin vom Schülercoaching. „Die hat mich dann sehr unterstützt. Das hätte ich vorher nicht gedacht“, sagt Sarah.
Gesenkter Blick und geduckte Haltung verstärken Opferrolle
Der 14-jährige Ben* litt so sehr unter den Beleidigungen, dass er ausrastete. „Ich habe den anderen gepackt und gegen die Wand gedrückt“, erzählt er. Danach sei es etwas besser geworden. Aber die Klassenlehrerin dachte, dass Ben an seinen Problemen selbst schuld sei. Martina Baehr erklärt: „Wenn Kinder sehr gemobbt werden, werden sie wütend und flippen irgendwann aus.“ Ben lebte seine Wut auch bei Computerspielen aus. „Ich habe mir Spiele geholt, wo man einfach nur töten muss“, sagt er. Heute bevorzugt er Rollen- und Strategiespiele.
Im Fall von Max* (15) konnte die Mutter die Aggressionen ihres Sohnes mithilfe der Erziehungsberatung auffangen. „Als ich verstanden hatte, woher sie kamen, haben wir das in den Griff gekriegt“, sagt sie. Schon nach dem ersten Treffen des Schülercoachings sei Max viel entspannter gewesen: „Man hat gemerkt, wie er sich entwickelt. Er ist ein ganz anderes Kind im Umgang mit seinen Mitschülern geworden“, sagt sie. „Die Gruppe hat mir viel gebracht, vor allem mehr Selbstbewusstsein“, sagt ihr Sohn. Max erzählt wieder mehr. „Und wenn jemand etwas sagt, wehre ich mich und sage meine Meinung.“
Mit anderen darüber zu reden, wie es ihnen gehe, sei am hilfreichsten gewesen, meinen die drei Jugendlichen. „Du merkst, du bist nicht allein“, sagt Ben. In Rollenspielen und bei Videoaufnahmen erfahren die Teilnehmer, wie sie auf andere wirken und was sie verbessern können. Dass etwa der gesenkte oder abgewandte Blick und die geduckte Körperhaltung die Opferrolle verstärken können. Gemeinsam arbeiten sie an ihrer Ausstrahlung und geben sich Tipps.
Fast jeder sechste 15-Jährige wird in Deutschland regelmäßig Opfer von teils massiver körperlicher oder seelischer Misshandlung an seiner Schule. Jungen sind im Schnitt häufiger Mobbing-Opfer als Mädchen, die aber stärker von Ausgrenzung und bösen Gerüchten betroffen sind. Das hat die PISA-Studie zum Wohlbefinden von Jugendlichen ergeben, bei der gut 10.000 Schüler in Deutschland befragt wurden.
Kinder und Jugendliche werden vor allem von Mitschülern gemobbt. In jedem fünften Fall sind auch Lehrkräfte aktiv beteiligt. Erwachsene können aber auch passiv zum Mobbing beitragen. Fehlende Unterstützung verstärke etwa das Gefühl von Hilflosigkeit der betroffenen Kinder. Auch Mitschüler trauen sich nicht einzuschreiten. „Es gibt viele, die sich sagen: besser der als ich“, sagt Martina Baehr.
Für Lehrerverband ist Dulden eine Art von Täterschaft
Die 51-Jährige gibt seit vier Jahren Schülercoaching-Seminare für Jungen und Mädchen im Reinbeker Beratungszentrum Südstormarn. Baehr ist Mobbingberaterin und Stand-up-Trainerin. Stand up heißt übersetzt: Steh auf, mach dich gerade, steh für dich ein. Das Gruppentraining hilft den Mobbingopfern, die Hilflosigkeit aufzuarbeiten. Die Jugendlichen tanken ein halbes Jahr lang einmal die Woche Selbstbewusstsein. Die Kurse eignen sich für Mädchen und Jungen im Alter von zwölf bis 16 Jahren. „Etwas Selbstreflektionsfähigkeit muss schon vorhanden sein“, so Baehr.
Den Weg zu ihr finden Betroffene oft über die Reinbeker Erziehungsberatungsstelle. Aber auch Schulen wenden sich an sie. Barbara Kandler, Schulsozialarbeiterin an der Gemeinschaftsschule Wiesenfeld in Glinde, sagt: „Das ist ein tolles Angebot und eine wunderbare Ergänzung zu dem, was wir tun.“
Das Schülercoaching gebe Jugendlichen die Möglichkeit, an ihrem Selbstbild und an ihrer Widerstandskraft zu arbeiten. „Das können wir in der Schule mit unseren Ressourcen nicht leisten.“ Wichtig sei es, das Thema auch im Unterricht zu behandeln, meint Kandler, die eine Anti-Mobbing-Ausbildung hat.
„In Klassen, in denen gemobbt wird, sind die sozialen Normen außer Kraft gesetzt. Doch es gibt viel, was man mit den Tätern machen kann“, meint Martina Baehr. Für den Philologenverband, die Vertretung der Gymnasiallehrer, ist Schweigen und Dulden eine Art von Täterschaft. Auch Diplom-Psychologin Gisa Poltrock, Leiterin der Südstormarner Erziehungsberatungsstelle, sagt: „Wir möchten, dass Eltern und Lehrer besser hingucken.“
Das Thema Mobbing sei in den Familien oft „schambesetzt“. So habe eine Mutter ihre Tochter zwar zum Coaching geschickt, sei aber nicht zum Elternabend erschienen. Martina Baehr rät Eltern davon ab, sich spontan in den Konflikt einzumischen: „Erst nachdenken und sich Hilfe holen, dann agieren“, sagt die Mobbingberaterin.
(* Namen geändert)