Ahrensburg. Handys und Navigationssysteme lösen Alkohol laut neuer Studie in der Statistik ab. Doch bei der Unfallaufnahme spielen sie keine Rolle.
Ein Klingelton, ein Vibrieren – reflexartig richtet sich der Blick des Autofahrers zum Smartphone. Bei jungen Verkehrsteilnehmern passiert das häufig sogar während der Fahrt. Dabei kann nur ein Moment der Unachtsamkeit fatale Folgen haben. Ablenkung, ob durch Smartphone oder die Bedienung von Navigation und anderen technischen Geräten im Auto, hat das Fahren unter Alkoholeinfluss als Unfallursache Nummer 1 abgelöst, wie eine Verkehrsstudie des Allianz Zentrums für Technik (AZT) darlegt. Ablenkung ist damit für etwa jeden zehnten Unfall mit Getöteten verantwortlich.
Davon ist auch Tino Sdunek, als Präventionsbeamter bei der Polizei in Bad Oldesloe für die Verkehrserziehung zuständig, überzeugt. „Die typische Kopfbewegung herunter zum Handy beobachte ich an der Ampel immer wieder.“ Auffahrunfälle, aber auch das Abkommen von der Fahrbahn auf gerader Strecke, seien typische Folgen dieses Fehlverhaltens. „Die jungen Leute sind sehr selbstkritisch, geben zu, dass Smartphone zu nutzen, obwohl sie zumindest abstrakt um die Gefahren wissen“, sagt der Präventionsbeamte, der an den Schulen Stormarns über die Gefahren im Straßenverkehr aufklärt.
Tippen von Kurznachrichten ist besonders gefährlich
„Wer bei 100 Kilometern pro Stunde zwei Sekunden auf das Handy schaut, fährt über 50 Meter blind“, weiß der Polizist. Das Schreiben von Textnachrichten erhöhe die Unfallwahrscheinlichkeit sogar um das 23-fache. Jörg Kubitzki, Co-Autor der Allianz-Studie, ergänzt auf Nachfrage des Hamburger Abendblatts: „Obwohl Ablenkung als Unfallursache in vielen Kampagnen weltweit thematisiert wird, bleiben die Unfallzahlen gleich oder steigen.“ Ablenkung habe daran einen steigenden Anteil. Eine der Erkenntnisse der Studie ist: Wer ein Smartphone oder eine besonders umfangreiche technische Ausstattung im Auto hat, nutzt sie auch.
Über alle Altersgruppen gesehen liegt die Verbreitung von Handys bei 90 Prozent, Smartphones haben bereits 60 Prozent der Deutschen. Eine weitere Steigerung sei jedoch absehbar, da bereits 77 Prozent der 18- bis 24-Jährigen über ein solches Gerät verfügen. Selbst bei den bis 64-Jährigen sind es schon 70 Prozent. Erst bei Senioren ab 65 Jahren sinkt die Ausstattungsquote deutlich auf 29 Prozent. Problematisch sei auch die sogenannte Doppelbedienung, bei der das (neue) Handy aus Gewohnheit oder wegen Koppelungsproblemen mit der Freisprecheinrichtung am Ende doch zur Hand genommen wird, erklärt Jörg Kubitzki. Diese immer komplexer werdende Technik moderner Autos sei dabei gerade für Senioren eine große Herausforderung.
Telefonieren als Unfallursache immer noch auf Platz eins
Kubitzki betont, dass bei Smartphonebesitzern die Bereitschaft hoch ist, diese auch während der Fahrt zum Lesen und zum Tippen von Nachrichten zu verwenden. Innerhalb der Unfallursachen durch Ablenkung belege das Telefonieren der Häufigkeit nach immer noch Platz eins, gefolgt von Einstellungen am Navi, wobei auch fest eingebaute Geräte gemeint sind. Danach folgt besagtes Lesen und Tippen von Nachrichten, das besonders für schwere Unfälle verantwortlich gemacht wird.
Andere Ursachen sind telefonierende oder betrunkene Mitfahrer, intensive Gespräche oder ein Streit während der Autofahrt, gefolgt von Einstellungen an Spiegel oder Sitz. Die Betreuung von Kindern oder kranken Angehörigen sei hingegen nicht problematisch. Ihre Anwesenheit sorge für eine defensivere Fahrweise und damit weniger unfallträchtig, so Kubitzki. Zahlen aus dem Kreis Stormarn scheinen diesen Trend zu untermauern, weist der Verkehrssicherheitsbericht der Polizei Ratzeburg für 2014 seit langem erstmals wieder einen Anstieg der Unfälle um 156 auf 5773 auf. Problem: „Ablenkung als Unfallursache steht nicht auf unserem Vordruck“, sagt Sdunek. Er vermutet eine hohe Dunkelziffer, vor allem, weil Ablenkung schwer nachzuweisen ist. „Wer gibt schon zu, abgelenkt gewesen zu sein und nimmt damit zumindest einen Teil der Schuld auf sich?“
Unfallforscher fordern Ausweitung der StVO
Anders in einer repräsentativen Umfrage der Allianz: Hier geben 74 Prozent der Fahrer zu, durch die Nutzung fest verbauter Technik im Auto abgelenkt zu sein. Immer noch 46 Prozent räumen Handyverstöße ein, wovon 24 Prozent Textnachrichten während der Fahrt lesen, 15 Prozent schreiben auch welche. Bei den Fahrern bis einschließlich 24 Jahre sind es sogar 27, respektive 29 Prozent.
Ganze 52 Prozent der Fahrer geben an, auch durch telefonierende Mitfahrer abgelenkt zu sein. Die Folge: 2015 sollen deutschlandweit 350 Menschen durch Ablenkung während der Autofahrt ums Leben gekommen sein. Das sind nahezu zehn Prozent der Verkehrstoten. Durch Alkohol am Steuer verstarben 256 Personen.
Die Unfallforscher um Jörg Kubitzki vom AZT fordern deswegen, Ablenkung mit in die Unfallstatistik aller Bundesländer aufzunehmen, wie in Österreich und der Schweiz. In Deutschland ist das bisher nur in Berlin, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland der Fall. Auch sollte der sogenannte „Handy-Paragraf“ 23 der Straßenverkehrsordnung auf andere mobile Geräte wie Tablets ausgeweitet werden. Einen weiteren Sicherheitsgewinn versprechen sich die Forscher durch eine Erleichterung der Bedienung, das Ausschalten fahrfremder Funktionen bei rollendem Auto und den serienmäßigen Einbau von Notbrems-Assistenten für alle Fälle.
Forscher fordern, Ablenkung bei Unfällen zu erfassen
Eine Verschärfung hält auch Tino Sdunek von der Stormarner Polizei für sinnvoll, befürchtet allerdings viel Arbeit für die ermittelnden Kollegen. „Ein klingelndes Handy im Fußraum ist ein Indiz, aber kein Beweis.“ Im Zweifel müsste über Verbindungsdaten nachgewiesen werden, dass der Fahrer das Gerät zum Unfallzeitpunkt auch bedient hat.