Kiel. Cold Case Unit beim Landeskriminalamt in Kiel rollt ungelöste Fälle neu auf und versucht, die Täter auch nach Jahren zu überführen.
Mord verjährt nicht. Deswegen rollt die Mordkommission immer wieder alte Fälle neu auf, um dem Täter mit moderner Kriminaltechnik auch Jahre nach dem Verbrechen auf die Spur zu kommen. In Schleswig-Holstein ist dafür jetzt beim Landeskriminalamt in Kiel eine eigene Spezialeinheit gegründet worden.
Mit der Cold Case Unit (CCU), das bedeutet frei übersetzt Einheit für ungelöste Fälle, setzt das LKA Empfehlungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur NSU-Affäre um. Denn bei den Morden, die erst viele Jahre später dem Nationalsozialistischen Untergrund zurecht werden konnten, war zuvor immer wieder in die falsche Richtung ermittelt worden. Die Täter wurden in der türkischen Community gesucht.
Größter Massengentest in Schleswig-Holsteins
„Diese neue Arbeitseinheit bietet jetzt die Möglichkeit einer erneuten Fallbetrachtung, abgesetzt von den normalen Ermittlungsstrukturen“, sagt Carola Jeschke, Sprecherin des Landeskriminalamtes. Ein weiterer Vorteil sei, dass aktuelle Fälle die Ermittlungen bei Altfällen nicht mehr unterbrächen.
Bislang haben die Ermittler der vier Mordkommissionen im Land alte Fälle bearbeitet, sobald sie dafür Zeit hatten. Die für Stormarn zuständige Mordkommission in Lübeck hatte beispielsweise vor mehr als sechs Jahren zum größten Massengentest in der Geschichte Schleswig-Holsteins aufgerufen, um den Mörder von Silke B. zu finden. 2200 Männer wurden zur freiwilligen Speichelprobe aufgerufen. Unter ihnen vermutete die Polizei den Mann, der die 15 Jahre alte Schülerin aus Reinfeld 1985 erstochen hatte. Ihre Leiche wurde auf einem Feld zwischen Schlamersdorf und Sühlen gefunden. Von rund 2160 Männern bekamen die Ermittler eine Speichelprobe, doch der Täter war nicht dabei.
Somit ist der Fall Silke B. weiterhin ungeklärt und damit einer von 180 ungelösten Verbrechen in Schleswig-Holstein, für die jetzt auch die Cold Case Unit zuständig ist. „Neben Mord und Totschlag werden Vermisstenfälle, bei denen ein Tötungsdelikt nicht auszuschließen ist, von den Kollegen neu aufgerollt“, sagt Jeschke. Der älteste Fall ereignete sich im Jahr 1946. „Es handelt sich um eine vermisste Frau aus dem Itzehoer Bereich, damals wurde ein Tötungsdelikt vermutet“, erklärt die LKA-Sprecherin. Die jüngste ungeklärte Tat stammt aus Oktober 2015. Damals wurde in Sülfeld eine Babyleiche in einem Mülleimer an einer Bushaltestelle gefunden.
Gibt es eine Spur, die nicht weiterverfolgt wurde?
In den Wochen nach dem grausigen Fund, der das ganze Dorf schockierte, haben die Ermittler nichts unversucht gelassen, die tatverdächtigte Mutter des toten Säuglings zu finden. Die Polizei veröffentlichte Fotos von einem Pullover und einem Trägershirt, indem der lebelose Körper gewickelt war, in der Hoffnung, Hinweise aus der Bevölkerung zu bekommen. Die Ermittler setzten eine Belohnung von 1500 Euro aus.
Zudem wurden 400 Flugblätter an Autofahrer rund um den Fundort verteilt. Doch niemand konnte helfen. Auch Fahndungsaufrufe über Facebook und andere soziale Medien sowie an allen weiterführenden Schulen des Kreises brachten keine Erkenntnisse. Zwar haben Rechtsmediziner die DNA des Babys gesichert und könnten damit auch zweifelsfrei die Mutter identifizieren, doch dafür müssten die Beamten einen Hinweis haben, wer die Mutter sein könnte.
Haben die Kollegen etwas übersehen? Gibt es eine Spur, die nicht weiter verfolgt wurde? Diese und viele weitere Fragen werden sich die zwei erfahrenen Mordermittler, die jetzt die CCU im LKA bilden, stellen müssen – im Fall der Babyleiche von Sülfeld sowie bei den anderen ungeklärten Kapitalverbrechen. Welchen Fall sich das Duo zuerst vornimmt, möchte es nicht sagen. „Aus ermittlungstaktischen Gründen können hier aktuell keine Angaben gemacht werden“, sagt Carola Jeschke.
Fall Lolita nach 30 Jahren aufgeklärt
Laut eines Kriminalbeamten wird zunächst geprüft, wo es sich lohnt, die Ermittlungen neu aufzurollen. Gibt es neue Ansätze und wie wahrscheinlich ist eine Verurteilung? Zwar verjährt Mord nicht – Totschlag indes nach 20 Jahren. Vor rund vier Jahren hatte beispielsweise das Landgericht in Trier im Fall Lolita den Täter freigesprochen. Zwar war das Gericht von seiner Schuld überzeugt, konnte ihm einen Mord aber nicht nachweisen. Somit wurde die Tat im November 1982 als Totschlag gewertet und der Täter freigesprochen.
Der Fall Lolita konnte nach rund 30 Jahren aufgeklärt werden, weil ein Bekannter des Täters sein Schweigen brach und den Ermittlern sagen konnte, wo die Leiche lag. Solch ein Hinweis könnte auch das mutmaßliche Verbrechen an Bauer Studt aus Sülfeld aufklären. Denn von dem Opfer fehlt bis heute jede Spur. Am 18. Oktober 1996 verschwand der 50 Jahre alte Landwirt auf mysteriöse Weise. Die Polizei fand später seinen Traktor, daneben eine große Blutlache. Mediziner konnten das Blut eindeutig Hans-Werner Studt zuordnen und waren sich sicher, dass der Mann angesichts einer solch großen Menge Blut nicht überlebt haben kann.
Neben Menschen, die nach Jahrzehnten ihr Schweigen brechen, setzen die Ermittler auf DNA-Spuren an asservierten Gegenständen – die auch Jahre nach der Tat immer noch dem Täter zugeordnet werden können.
1970: Der grausige Tod der Hannelore K. aus Barsbüttel
„Geh’ nicht mit dem Mann, Mausi. Mutti hat es doch verboten.“ Das waren die mahnenden Worte einer jüngeren Schwester, die ahnte, dass etwas mit dem Mann nicht stimmte, der Hannelore K. bat, ihm bei der Suche nach seinem Portemonnaie zu helfen. Doch die 13-Jährige ging mit. Einen Tag später, am 22. Dezember 1970, fand die Polizei ihre Leiche in der Feldmark im Barsbütteler Ortsteil Stellau. Das tote Kind lag nur 300 Meter vom Elternhaus entfernt. Den Beamten bot sich ein grausiges Bild: Das Mädchen war vergewaltigt worden. Strangulationsmerkmale am Hals verrieten, wie Hannelore K. starb. Weil die Familie der Toten sehr arm war, sammelten die Bewohner Geld für einen Grabstein. Die Polizei lobte damals eine Belohnung von 3000 Mark für Hinweise aus, zudem wurde mithilfe der Schwester (9) ein Phantombild gezeichnet. Doch der Täter wurde nie gefasst. Neun Monate nach der Tat verließ die Familie das Dorf.
1985: Der Fall Silke B. aus Reinfeld
Es ist ein schöner Sommermorgen, als Spaziergänger eine grausige Entdeckung machen. An einem Rapsfeld zwischen Schlamersdorf und Sühlen liegt der leblose Körper eines jungen Mädchens. Die Polizei wird später feststellen, dass es die Leiche der 15 Jahre alten Silke B. aus Reinfeld ist. Die Schülerin wurde erstochen.
Einen Tag zuvor, am Sonnabend, 1. Juni 1985, war Silke B. Zuhause in Reinfeld gegen 17 Uhr aufgebrochen. Das Mädchen wollte auf zur Party „Spektakel 85“ in der Schule Masurenweg in der benachbarten Stormarner Kreisstadt Bad Oldesloe. Dort ist sie jedoch nie angekommen. Was genau an diesem Abend geschah, darüber rätseln die Ermittler bis heute. 2010 wurde der Fall neu aufgerollt. Forensiker entdeckten an der Asservaten DNA-Spuren eines Mannes. Die Polizei ist sich sicher, dass es der genetische Fingerabdruck des Mörders ist.
Doch ein Abgleich mit der Datenbank des BKA, in dem die DNA-Codes von Straftätern gespeichert sind, ergab keinen Treffer. Auch ein Massengentest, zu dem 2200 Männer aufgerufen wurden, führte nicht zu dem Mann, der Silke B. getötet hat.
1988/89: Mord im Taxi – die Fälle Rosemarie H. und Ingrid G.
Zwei Morde an Taxifahrerinnen Ende der 1990er-Jahre in Köthel und Wentorf sind bis heute ungeklärt – aber nicht vergessen. Obwohl mehr als ein Jahr zwischen den Taten verging, geht die Polizei davon aus, dass Rosemarie H. und Ingrid G. vom selben Täter ermordet wurden.
Es ist Montag, der 21. März 1988. Gegen 19 Uhr steht Rosemarie H. mit ihrem Taxi am S-Bahnhof in Bergedorf. Kollegen beobachten, wie ein Mann in den hellen Mercedes der 46-Jährigen steigt. Es ist das letzte Mal dass sie ihre Rosi sehen. Denn um 19.30 Uhr machen Passanten in Wentorf eine grausige Entdeckung. An der Straße Am Petersilienberg steht das Taxi der Hamburgerin. Ihr Kopf hängt aus der Seitenscheibe. Er ist blutüberströmt. Eine Obduktion ergibt, H. ist mit mehreren Messerstichen getötet worden. Ermittlungen der Lübecker Mordkommission führen nicht zu Täter, der laut Polizei am 9. August des darauffolgenden Jahres erneut tötet.
Es ist ein Mittwochmorgen, 4.15 Uhr. Ingrid G. wartet am Taxistand am Bahnhof in Bergedorf auf Fahrgäste. Ein Mann steigt in das Auto der 58-Jährigen. Fünf Stunden später wird das ausgebrannte Taxi an einem Waldweg in Köthel gefunden. Im Kofferraum liegt die verkohlte Leiche der Taxifahrerin. Ermittlungen der Kriminalpolizei führen auch nach dem Tod von Ingrid G. nicht zu dem Mörder.
1996: Mord ohne Leiche – der Fall Bauer Studt aus Sülfeld
Was ist am 18. Oktober 1996 auf dem Feld von Bauer Studt in Sülfeld geschehen? Diese Fragen stellen sich bis heute Polizei und Dorfbewohner. Fest steht, dass der 50-Jährige morgens sein Haus verlässt und mit seinem Trecker auf eines seiner Felder fährt. Er will Roggen säen. Als er gegen 21 Uhr immer noch nicht daheim ist, macht sich seine Frau auf die Suche. Am Feldrand findet sie den Trecker, daneben eine große Blutlache. Von ihrem Mann fehlt jedoch jede Spur – bis heute. Mediziner stellen damals fest, dass das gefundene Blut von Hans-Werner Studt stammt und dass er angesichts der großen Menge an Blut wohl nicht mehr lebt. Für Hinweise lobt die Polizei eine Belohnung von 5000 Euro aus, die Studts Ehefrau vier Jahre später auf 20.000 Euro erhöht. Doch niemand kann helfen. Fünf Jahre nach der Tat, im Oktober 2001, erklärt ein Richter den vermissten Bauern für Tod. Kurz darauf entfacht ein Erbschaftsstreit.
2015: Fall Teresa, Babyleiche im Papierkorb abgelegt
Es ist eine grausige Entdeckung, die Mitarbeiter des Sülfelder Bauhofs am 15. Oktober 2015 machen. Beim Ausleeren des Papierkorbs an einer Bushaltestelle an der Bundesstraße 432 entdecken sie eine Babyleiche. Der kleine Köper ist in ein Sweatshirt mit dem Aufdruck „PinBall Pirates“ eingewickelt. Eine Obduktion ergibt, das Neugeborene ist vor wenigen Tagen gestorben. Trotz einer Belohnung in Höhe von 1500 Euro für Hinweise, die zur Mutter führen, konnte diese bis heute nicht gefunden werden. Die Frau steht im Verdacht, ihre Tochter kurz nach der Geburt getötet zu haben. In Sülfeld und Umgebung war die Betroffenheit groß. Die Menschen sammelten Spenden für Beerdigung und Grabstein, gaben dem Mädchen den Namen Teresa.