Reinbek. 88 notorische Schulschwänzer hat die Stormarner Kreisverwaltung im ersten Halbjahr 2016 erfasst– im Durschnitt 30 Fehltage.

Genau 88 notorische Schulschwänzer hat die Stormarner Kreisverwaltung im ersten Halbjahr 2016 erfasst. Die 48 Jugendlichen und 40 Grundschulkinder sammelten zusammen 2667 Fehltage an. Das waren im Durchschnitt 30 Tage, davon 57 Prozent unentschuldigt. In den vergangenen vier Jahr hat sich die Zahl der Schulverweigerer verdoppelt: 2012 sprach das Schulamt des Kreises von rund 40 Kindern und Jugendlichen.

Die Gesamtzahl der Schulverweigerer in Stormarn dürfte deutlich höher sein. Denn die Daten, die Schulrat Michael Rebling jetzt auf dem „Fachtag Schulabsentismus“ in Reinbek nannte, stammen aus den 35 Grundschulen, fünf weiterführenden Schulen ohne Oberstufe und sieben Förderzentren im Kreis. Zusammen kommen sie auf rund 12.000 Schüler. Für Gymnasien und Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe ist das Land zuständig. Das Bildungsministerium in Kiel hat zuletzt 2014/15 die Fehlzeiten abgefragt, doch die Ergebnisse sind nicht öffentlich.

Die Organisatoren (v.l.), die Psychologinnen Bärbel
Die Organisatoren (v.l.), die Psychologinnen Bärbel © Barbara Moszczynski | Barbara Moszczynski

Die Zahlen sind erschreckend. Erfahrungsgemäß hilft nur ein frühes Gegensteuern bei Schwänzern. Erfahrungsgemäß sinken ab 21 Tagen Fehlzeit die Erfolgsquoten erheblich. Schulrat Michael Rebling ist alarmiert. „Die Schulen merken einen Anstieg in der Intensität der Verweigerung“, sagt er.

„Die Eltern kommen meist zu spät zu uns in die Erziehungsberatung“, sagt Gisa Poltrock von der Südstormaner Vereinigung für Sozialarbeit (SVS) in Reinbek. Zusammen mit der evangelischen Beratungsstelle Stormarn hatte sie zum „Fachtag Schulabsentismus“ ins Reinbeker Schloss eingeladen. 80 Pädagogen, Erziehungsberater und Therapeuten diskutierten dort über Möglichkeiten, die Schulverweigerer wieder einzugliedern. Denn die setzten ihre Lebenschancen aufs Spiel. Studien haben ergeben: Je häufiger Jugendliche die Schule schwänzen, desto stärker sind sie später in Straftaten involviert.

Glinder Gemeinschaftsschule hilft mit Extra-Unterricht

Matthias Schlimmer, stellvertretender Leiter des Förderzentrums Amalie-Sieveking-Schule in Reinbek, differenziert: „Das sind nicht nur faule Schüler, die Ursachen von Schulverweigerung sind oft psychische Erkrankungen oder familiäre Probleme.“ Malte Lücke, Diplom-Psychologe und Kinder- und Jugendlichentherapeut an der Vorwerker Fachklinik in Büchen, gibt ihm Recht. Lücke teilt die Verweigerer in drei Kategorien ein. Nicht alle schwänzen aus Unlust.

Viele leiden unter der Angst vor Überforderung oder vor der sozialen Situation in der Klasse. Andere hätten eine Schulphobie, hier liegen die Ursachen in der Familie. „Die Kinder können ihrem Zuhause nicht den Rücken zudrehen. Sie haben extreme Trennungsängste, etwa weil sie sich um die alkoholkranke Mutter kümmern müssen“, sagt Lücke. Während Eltern von Schwänzern häufig aus allen Wolken fallen, wenn die Schule sie über hohe Fehlzeiten informiert, tragen Eltern schulängstlicher oder schulphobischer Kinder zur Verweigerung bei, weil sie die Abwesenheit entschuldigen.

Frühes Handeln von Schule und Eltern ist wichtig

Oft werde die Schule sehr lange geschwänzt, ohne dass es bemerkt werde, sagt Lücke. Je mehr Zeit vergehe, desto schwieriger sei es, dagegen anzugehen. Frühes Handeln sei wichtig „Die Schule muss an die Eltern ran, muss mit ihnen kommunizieren, sie aber auch konfrontieren und trotzdem kooperativ sein, Hilfe anbieten“, so der Therapeut.

Wilhelm Hegermann, Fachbereichsleiter Jugendhilfe im Kreis Stormarn, findet die differenzierte Betrachtung der Ursachen hilfreich: „Das wurde in der Vergangenheit etwas über einen Kamm geschert.“ Bei hartnäckigen Fällen müsse mit viel Input und Beziehung gearbeitet werden, ist seine Erfahrung. Doch die Ressourcen dafür seien an den Schulen oft nicht ausreichend.

Kommunen können Ordnungsgelder verhängen

Um Schulabsentismus vorzubeugen gibt es zwar Handlungsempfehlungen von Bildungsministerium und Schulämtern, diese seien aber nicht bekannt genug, ist ein weiteres Fazit der Konferenz. Der Katalog reicht vom Gespräch mit den Eltern über Hausbesuche bis zur Konferenz mit Jugendamt und Jugendhilfe. Die Kommunen können auch Ordnungsgelder verhängen und die Schwänzer zur Schule begleiten.

Die Sönke-Nissen-Gemeinschaftsschule in Glinde hat ein eigenes Programm entwickelt. Elf der 574 Schüler nehmen derzeit am sogenannten BASE-Unterricht teil. Ein Team aus Lehrern und Schulsozialpädagogen führt sie schrittweise wieder an den regulären Unterricht heran. Direktor Sascha Plaumann sagt: „Wir wollen die Kinder nicht verlieren. Jeder, der die Schule ohne Perspektive verlässt, ist ein Misserfolg für uns.“

Abtauchen in Parallelwelt aus TV und PC ist eine Ursache

Die Schulen fordern mehr Unterstützung. Etwa so, wie sie Thomas Schmidt in Osnabrück bietet. 2012 investierte der niedersächsische Landkreis in vier Beraterstellen für das Projekt „Übergangsmanagement Schule-Beruf“. Seit 2014 ist die Zahl der Schulverweigerer nicht gestiegen. Derzeit fehlen 400 der rund 25.000 Schüler auffällig oft. „Wir begleiten davon etwa 250 junge Menschen von der Schule bis ins Berufsleben“, sagt der Sozialpädagoge Schmidt. Für ihn ist unbegrenzter Medienkonsum eine Ursache, warum Kinder keine Sozialkompetenz entwickeln und sich zurückziehen. „Viele haben schon im Grundschulalter ein Handy und einen Fernseher im Kinderzimmer“, sagt er.

Was Eltern tun können

Warnsignale beachten: Das Kind verliert die Lust an der Schule und am Lernen. Es bringt schlechte Noten nach Hause, spricht häufig von Übelkeit, Bauch- oder Kopfschmerzen, schläft schlecht und ist morgens antriebslos. Es berichtet nicht aus der Schule, blockt Fragen ab oder reagiert aggressiv. Es möchte häufig aus der Schule abgeholt werden und hat Verletzungen, die sich nicht erklären lassen.

Den Dingen auf den Grund gehen: Sprechen Sie ihr Kind an. Warten Sie nicht, bis es auf Sie zukommt. Zeigen Sie Interesse: Wenn das Kind aus der Schule kommt, fragen Sie nach seinen Erlebnissen. Signalisieren Sie Gesprächsbereitschaft, aber drängen Sie nicht. Halten Sie Kontakt zur Schule, besuchen Sie Elternabende. Der Klassenlehrer ist der richtige Ansprechpartner, er hat den besten Überblick über die Situation.

Bei Schulproblemen richtig reagieren: Eltern sollten nichts beschönigen, sondern kooperieren. Suchen Sie gemeinsam mit der Schule nach Ursachen für die Probleme.

Kinder mit einem geregelten Tagesablauf unterstützen: Starten Sie gemeinsam in den Tag, wecken Sie ihr Kind, frühstücken Sie gemeinsam, sorgen Sie für ein Pausenbrot. Auch der Nachmittag braucht Struktur mit Zeiten für Hausaufgaben, Freizeit oder Ruhepausen. Legen Sie frühzeitig eine Zeitbegrenzung für Fernseher, Handy und PC und eine altersgemäße Schlafenszeit fest.

Hilfe holen: Beratungszentrum der Südstormarner Vereinigung für Sozialarbeit in Reinbek (Telefon 040/72 73 84 50) ; evangelische Beratungsstellen in Ahrensburg (04102/537 66), Bargteheide (04532/244 33) und Bad Oldesloe (04531/864 37).

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Diese „Medienverwahrlosung“ führe zum Abtauchen in eine Parallelwelt der Onlinespiele und sozialen Medien, sagt auch Therapeut Malte Lücke. Die sei spannend und biete Erfolgserlebnisse. „Das kann ich wenigstens – da bin ich richtig gut“, habe ihm neulich ein Jugendlicher gesagt, „in der Schule lande ich sowieso keinen Treffer mehr.“

Für Anfang 2017 plant Schulrat Michael Rebling eine weitere Konferenz zum Thema. Im Februar startet eine Arbeitsgruppe der Beratungsstellen, die einen Leitfaden entwickeln soll.