Ahrensburg/Bargteheide . Sogar Menschen, die sonst meistens zu Hause vor dem Computer sitzen, gehen plötzlich auf die Straße - mit dem Smartphone in der Hand.

Vier Jungs, alle fast volljährig, sitzen auf ihren Fahrrädern, jeder hat den Blick auf das in der Hand liegende Handy gerichtet. Was ist so fesselnd?

Annika Hühr steht in einem kleinen Park in Bargteheide und blickt auf ihr Handydisplay. 30 Minuten lang steht die 29-Jährige dort, hält Ausschau. Genau hier sollte es doch sein.

Weltweit mehr als zehn Millionen Downloads

Unauffällig greifen zwei Männer um die 30 zu ihren Handys, suchen die Gegend ab, lassen die Geräte dann, als fühlten sie sich beobachtet, wieder in ihren Taschen verschwinden. Die Situationen wirken bizarr. Doch es ist nur ein Spiel. Pokémon Go, um genau zu sein. Seit Mittwoch kann es in Deutschland heruntergeladen werden, weltweit gab es bisher mehr als zehn Millionen Downloads von Smartphone-Nutzern.

Ziel des Spiels ist es, möglichst viele virtuelle Monster zu fangen. Orten kann man die Pokémons mit dem Handy auf einer Karte. Befindet sich der Spieler in circa zehn Meter Entfernung, wird die Handykamera eingeschaltet. Zu sehen ist die reale Umgebung des Spielers – und da: ein virtuell eingefügtes Wesen! Dies gilt es einzufangen.

Nutzer lassen Kindheitserinnerungen aufleben

Was zieht so viele zu Pokémon Go? „Pokémon ist meine Kindheit gewesen”, sagt der 17-jährige Leon. Auch John (18) redet von „Nostalgie”, die die neue App bei ihm auslöse. Pokémon kennen viele aus ihrer Kindheit. Damals gab es Computerspiele, Karten und Filme mit den Wesen. Die Begeisterung für das neue Smartphonespiel macht auch vor Altersgrenzen keinen Halt. Zwischen Annika Hühr, ihrem Mann und ihrem Sohn ist ein regelrechter Wettstreit darum ausgebrochen, wer den Tag über die meisten Pokémons einfängt. Die Fans begeben sich in Freistunden, Mittagspausen oder auch kurz vor Mitternacht auf Monstersuche. Das Spiel scheint insbesondere Jungs zu interessieren.

Auch Annika Hühr (29) ist vom Pokemon-Fieber infiziert
Auch Annika Hühr (29) ist vom Pokemon-Fieber infiziert © HA | Christina Schlie

Es ist diese neue Form des Spielens, in der Realität und Fiktion verschwimmen, die den Reiz darstelle. „Mit der App kommt die Kindheit ins echte Leben“, so Timo Seemann (17) aus Bargteheide. Und auch Julia Streeckt (21), die das Spiel „aus Prinzip“ nicht herunterlädt, findet die Idee witzig. Schon längst sind Pikachus, Turtoks, Bisaflors und Guraks überall zu finden – bei Gewässern, Bahnsteigen oder am Ahrensburger Schloss. Aber auch nahe von Privatwohnungen. „Ach so! Deshalb waren gestern Jugendliche mit ihren Handys bei meinen Mülltonnen!“ – für Martin Moldenhauer (41) klärt sich eine abstruse Situation auf.

Soziale Kontakte durch die Smartphone-App

Bei der Frage, ob Pokémon Go soziale Kontakte fördert, gehen die Meinungen auseinander. Die Möglichkeit, in Kontakt zu treten, ergibt sich für die Nutzer beim Sammeln und Tauschen der Monster. Dafür müssen sie am gleichen Ort sein. „Es ist wie beim Rauchen. Ich lerne Leute kennen, weil wir alle das gleiche Pokémon suchen“, sagt der 18-jährige John aus Ahrensburg.

Armen Junge (23) hat dahingegen das Gefühl, dass das neue Spiel den „Handywahn“ und somit die Isolation der Handynutzer verstärke. So störte es ihn bei einem Treffen mit Freunden, dass zwei von ihnen sich gar nicht mehr von ihren virtuellen Pokémons lösten. „Ich sehe bei dem Spiel bisher keinen sozialen Faktor“, sagt auch Paul (32). Und Martin Moldenhauer beobachtet: „Draußen hat auch ohne Pokémon Go jeder sein Handy vor der Nase.“ Ist das neue Spiel also nur eines unter unzähligen Handyspielen mit Suchtpotenzial?

Frische Luft gibt’s beim Spielen inklusive

Nein. Denn neu ist mit Sicherheit, dass man für das Handyspiel spazieren gehen muss. Noch vor wenigen Tagen ermahnte Annika Hühr ihren Sohn: „Geh doch mal ein bisschen an die frische Luft.“ Jetzt muss sie ihn dazu nicht mehr auffordern.

Überall bilden sich in Bargteheide Gruppen, die auf der Jagd nach den virtuellen Wesen sind
Überall bilden sich in Bargteheide Gruppen, die auf der Jagd nach den virtuellen Wesen sind © HA | Christina Schlie

Dass Pokémon Go-Spieler oft vollkommen auf die einzufangenden Monster fixiert mitten auf der Straße stehen bleiben, schätzt Julia Streeckt als Gefahr ein. Andere sind schlichtweg genervt von den Monster suchenden Smartphone-Zombies, die überall anzutreffen sind. Viele ältere Leute scheinen von der Aufregung um Pokémon Go hingegen noch nicht viel mitbekommen zu haben. „Solange sie mich nicht über den Haufen rennen, ist mir das egal“, sagt Klaus Nobel (69) schmunzelnd.

Pokémon Go - Zahlen und Daten zum neuen Smartphone-Spiel

1996 wurden die Pokémons erfunden. Pokémon konnte man seither mit Karten spielen oder als Videospiel, weiterhin gibt es zahlreiche (Kino-)Filme. Dabei geht es iim Kern immer darum, Pokémon-Wesen zu sammeln, zu füttern und gegeneinander antreten zu lassen.

In den USA, in Australien und Neuseeland konnten Smartphonenutzer Pokémon Go ab dem 6. Juli herunterladen. In Deutschland geht dies seit Mittwoch. Bisher downloadeten zehn Millionen Menschen das Spiel. Aktuell wird es intensiver genutzt als Twitter.

Die Idee der App ist nicht neu. Schon seit einiger Zeit gibt es Augmented Reality-Apps, bei denen Nutzer gebunden an den eigenen Ort virtuelle Objekte sehen. Weiterhin versteckten schon Mitte des 19. Jahrhunderts Menschen beim Letterboxing Briefe für Suchende, und seit den 1980ern werden beim Geocaching Gegenstände mit GPS-Peilsendern ausgelegt und gesucht. hpap

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Die meisten Spieler sind sich interessanterweise darüber einig, dass der jetzt anfänglich Hype um Pokémon Go nur von kurzer Dauer sein wird. Insgesamt gilt es 250 Pokémon-Wesen einzusammeln, damit das Spiel voll ausgeschöpft werden kann. Hat Martin Moldenhauer also Recht, wenn er sagt, für Pokémon Go brauche man vor allem „viel Zeit und Langeweile“?