Reinbek. Der 87-Jährige Georges-Arthur Goldschmidt besuchte auf Einladung von Bürgermeister Björn Warmer seine Geburtsstadt und las im Schloss.

Zwei Orte, zwei Veranstaltungen, zwei Lebensthemen, die einen Menschen und Autor immer wieder aufs Neue beschäftigen. Georges-Arthur Goldschmidt besuchte am Wochenende seine alte Heimat. Es war sozusagen ein Doppeltermin, der den 87-Jährigen, der seit Jahrzehnten in Paris lebt, noch einmal zu einer Reise nach Norddeutschland motiviert hatte.

Die Psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft Hamburg, die am Sonnabend im Universitätsklinikum (UKE) ihren 60. Geburtstag feierte, hatte ihn als Festredner eingeladen. Goldschmidt nutzte die Gelegenheit auch für einen zweitägigen Besuch seiner Heimatstadt Reinbek, aus der er 1938 als zehn Jahre alter Junge vertrieben worden war. Seine Eltern hatten ihn, der damals noch Jürgen hieß, und den vier Jahre älteren Bruder Erich vorsorglich nach Südeuropa geschickt, weil der jüdischen Familie die Deportation in ein Konzentrationslager drohte.

Auf der Flucht vor den Nazis war er in einem Internat in Hochsavoyen versteckt

„Vom Sagen und Verschweigen“ lautete der Titel von Goldschmidts Festvortrag in Hamburg. „Wie kommt man von einer Sprache, die alles sagt, zu einer Sprache, die so vieles verschweigt?“ Der Einstiegssatz beschreibt die Aufgabe, die sich schon dem zehn Jahre alten Georges-Arthur stellte, der auf seiner von helfenden Verwandten organisierten Flucht nach Zwischenaufenthalt in Florenz in einem Internat im Département Hochsavoyen landete, wo er ganz auf sich allein gestellt nebenbei rasch die französische Sprache erlernen musste.

Goldschmidt hat am eigenen Leib erfahren, wie kulturelle Differenzen den Blick auf die Welt beeinflussen, was sich an der Sprache ablesen lässt. „Das Französische und das Deutsche stehen sich oft gegenüber“, sagte er im Gespräch mit dem Abendblatt. Die Perspektiven auf die Welt seien oft entgegengesetzt. Das führe zu der Frage: „Was wird betont, was verdrängt?“

In seinem Vortrag beschrieb Goldschmidt die Unterschiede an Strukturen und Wortbeispielen. Während im Französischen vieles mitgedacht werde, was nicht extra gesagt werden müsse, sei das Deutsche mit seiner praktischen Genauigkeit und Verbindungsfähigkeit wie ein Werkzeugkasten. Das Französische biete den allgemeineren Blick von oben, das Deutsche bleibe unten, dicht dran an der Sache – „was dazu führt, dass man das Wort leicht für die Sache hält.“

Goldschmidt selbst hat diese Differenzen bewusst erfahren, als er begann, deutsche Literatur, vor allem die Werke von Peter Handke, ins Französische zu übertragen. Er sagte einmal, dass die französische Sprache seine neue Heimat geworden sei. „Sie hat mich befreit. Ich habe mein Deutsch durch das Französische wiederentdeckt.“ Der Blick des einen sei durch den Blick des anderen bereichert worden.

„Deutscher geht’s gar nicht“, sagt Goldschmidt über seine jüdische Familie

Um das zweite große Thema seines Lebens ging es bei der Veranstaltung im Hofsaal des Reinbeker Schlosses vor 120 konzentriert zuhörenden Gästen. „Um das Grundbild meines Schreibens“, sagte Goldschmidt. Gemeint ist das Reinbek seiner ersten zehn Lebensjahre, das in Bildern noch immer präsent ist. Goldschmidt erzählte von seiner Familie, einer der ältesten jüdischen in Deutschland und eine, die patriotisch, konservativ und zum Protestantismus konvertiert war. „Deutscher geht’s gar nicht“, sagte Goldschmidt. „Ein absolut nicht heilbares Verbrechen, die Deutschen aus Deutschland wegzujagen.“

Die drei Goldschmidt-Kinder überlebten den Nationalsozialismus, doch seine Eltern sah Georges-Arthur nie wieder. Die Mutter starb 1942, der Vater 1947 in Reinbek – er hatte Theresienstadt überstanden.

Bernd M. Kraske, langjähriger Leiter der Kultureinrichtungen in Reinbek, bat seinen Freund Goldschmidt, aus dessen zuletzt ins Deutsche übersetzten Buch mit dem beziehungsreichen Titel „Ein Wiederkommen“ zu lesen. Goldschmidt lächelte und betonte: „Es war ein Wiederkommen, aber keine Rückkehr.“ Die Rede war von seinem ersten Besuch in Reinbek nach dem Krieg, 1949. Goldschmidt beschreibt darin, wie fremd er sich in einem Land fühlte, in dem der Wirtschaftswunder-Aufschwung schon erkennbar war und wo die Menschen sich selbst als Opfer sahen. Er war nicht erwünscht, seine Geschichte wollte niemand hören. In seiner Autobiografie „Über die Flüsse“ schrieb er: „Ich fühlte meine Herkunft ungehöriger denn je ... ich hätte Rauch sein sollen, ich war fehl am Platz.“

Als Kind spürte er in Frankreich ein „die Brust von innen auffressendes Heimweh“

Dennoch fühlte Goldschmidt die Verzweiflung eines „die Brust von innen auffressenden Heimwehs“, das er in Frankreich unterdrückt hatte. Aber er wusste auch, dass er nach Frankreich zurückkehren musste. Dennoch ist Reinbek, wie Kraske sagte, die Grundierung seines Schreibens geblieben. Goldschmidt bestätigte dies und beschrieb seine sehr räumlichen Erinnerungen an den Garten der Eltern und die Kückallee. Und nannte auf Nachfrage Orte, die in Bildern immer wieder auftauchen, den Bahnhof, den Tonteich, den Hügel zum Friedhof.

Goldschmidt hat sich mit seiner Geburtsstadt versöhnt. Er war mehrmals dort, zuletzt 2009, als ihm die Ehrenbürgerwürde verliehen wurde. Dieser Besuch sei wohl sein letzter, deutete er an. Der 87-Jährige hat das anstrengende Pensum intellektuell hellwach bewältigt, doch er sagte auch, dass ihn das Reisen anstrenge und er seine Frau ungern in Paris zurücklasse.

Am Ende eine Art Fazit, das ahnen lässt, dass der Mensch Georges-Arthur Goldschmidt, der als Kind schwer traumatisiert war, schreibend eine Art von Lebensglück gefunden hat: „Ich sage nicht ,Ach, ich habe zwei Seelen in meiner Brust’. Ich sage: ,Zum Glück habe ich zwei Seelen in meiner Brust’.“